Die Schmetterlingsinsel
an. Sie kannte die Haut seiner Hände und Arme, sie kannte seine Lippen, aber dass seine Brust sich so unvermutet samtig an ihre Haut schmiegte, hatte sie nicht erwartet. Ein Feuerstrahl, der in ihrer Brust erwacht war, schoss in ihren Schoß und hinterließ dort ein merkwürdiges Pochen.
Vikrama schien zu ahnen, welche Gefühle sie in diesem Augenblick heimsuchten, denn er zog sie unvermittelt an sich und küsste sie so leidenschaftlich wie bisher noch nie. Doch dann gewann er rasch wieder seine Selbstbeherrschung zurück.
»Wir müssen gehen«, keuchte er. »Sie erwarten uns. Und du willst doch nicht, dass deine Schwester uns sieht.«
Grace schüttelte den Kopf und ließ sich dann von ihm zu der Lücke in der Hecke ziehen.
Unterwegs plauderten sie im Flüsterton darüber, dass sie einander nicht mehr aus dem Kopf bekamen und dass es womöglich noch fatale Folgen haben würde, wenn er auf der Plantage fehltrat und den Hang hinunterpurzelte. »Aber immerhin habe ich dich dann in meinem Verstand, wenn ich sterbe«, setzte er lachend hinzu.
»Darüber macht man keine Scherze«, entrüstete sich Grace, dann streckte sie die Hand aus und fuhr durch sein weiches Haar. »Wenn es sein muss, denk nicht an mich, doch stürz mir ja nicht ab.«
Vikrama lachte kurz auf und gab ihr einen Kuss.
Stocktons Angriff war in diesem Augenblick vergessen, ohnehin hätte Grace es nicht über sich gebracht, ihm davon zu erzählen, denn sie wusste, dass er zu ihm gehen und ihn irgendwie bestrafen wollen würde, doch sie wollte nicht, dass ihm etwas geschah. Ihr Plan war sicher und würde dazu führen, dass sie endlich mit dem Mann zusammen sein konnte, den sie liebte.
An der Hütte angekommen, die nur spärlich mit Fackeln beleuchtet wurde, stockte ihr der Atem. Etwa zwei Dutzend junger Männer unterschiedlichen Alters saßen auf einer hölzernen Veranda und blickten auf einen mit Holz belegten Boden, auf dem einige Gegenstände abgelegt worden waren.
»Was ist das?«, wisperte sie Vikrama zu.
»Unsere Kampfschule.«
»Ihr habt eine Kampfschule hinter unserem Haus?«
Vikrama gab ihr einen Kuss. »Ja, das haben wir. Und ich vertraue darauf, dass dieses Geheimnis bei dir sicher ist.«
»Das schon, aber wie schafft ihr es, dass Vater nichts von alldem mitbekommt? Hat mein Onkel euch erlaubt, hier zu kämpfen?«
Vikrama nickte. »Das hat er. Unter der Bedingung, dass wir niemals einen seiner Leute mit dieser Kampfkunst angreifen. Für Unvorbereitete ist sie sehr gefährlich. Da jedermann deinen Onkel mochte, haben wir geschworen, unsere Kampfkunst nur dann einzusetzen, wenn unser Leben in Gefahr ist, sonst nicht.«
»Und das gilt auch für meine Familie.«
Vikrama nickte fast schon feierlich. »Ich muss zugeben, dass es mich in den Fingern gejuckt hat, diesen Petersen auf unsere Weise für Naalas Auspeitschung zu bestrafen, doch ich weiß mich zu beherrschen. Allerdings bin ich sicher, dass dein Vater uns nicht die gleiche Toleranz entgegenbringt wie euer Onkel. Deshalb finden wir uns nur nachts hier ein und verlassen den Ort so, als sei er schon vor langer Zeit endgültig aufgegeben worden. Wer zu Tageszeiten hierher kommt, wird nichts weiter vorfinden als eine windschiefe, verlassene Hütte.«
Damit zog er sie weiter, bis sie schließlich vor der Veranda, die vor der Hütte angebracht war, standen. Die Burschen schienen über ihr Auftauchen genauso erstaunt zu sein wie Grace über die Tatsache, dass sich dieses Gebäude so dicht bei der Plantage befand. Vikrama erklärte ihnen und dem alten Mann, der der Lehrmeister sein musste, kurz, warum sie hier war.
Grace bedauerte, nicht alles verstehen zu können, und nahm sich vor, Vikrama zu bitten, sie während ihrer Treffen ein wenig zu unterrichten.
»Der Lehrmeister ist einverstanden«, wandte sich Vikrama schließlich an sie. »Ich habe ihm erklärt, dass du vertrauenswürdig bist und nichts verraten wirst.«
»Und hast du ihm auch gesagt …«
Vikrama schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm erzählt, dass du lediglich eine Freundin bist – und jene Frau, die Naala gerettet hat.«
»Und das reicht schon?«
»Für unseren Lehrmeister ja. Setz dich am besten hier auf einen der Steine und sieh zu.«
Nachdem sie seiner Aufforderung nachgekommen war, beobachtete sie, wie er zu seinem Lehrmeister zurückkehrte. Wenn sie sich nicht täuschte, war Vikrama so etwas wie seine rechte Hand. Da der alte Mann wohl selbst nicht mehr kämpfen konnte, unterwies er die jungen Männer in
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