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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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brachte ihn auf eine Idee: Er holte eine Plastikwäscheleine vom Balkon und fesselte sie an einen Stuhl. Empört versuchte sie, sich loszureißen, und schrie ihn an:
    «Du verdammter Gigolo! Du elender Gigolo! Ich werde dich totbeißen! Ich bringe dich um!»
    Der Ermittler zog ein Taschentuch aus der Tasche und knebelte sie damit. Dann rannte er hinaus, als ginge es um sein Leben. Er knallte die Tür zu. Hinter sich hörte er die Stuhlbeine über den Holzboden schleifen. Er musste befürchten, dass die hartnäckige Verbrecherin mitsamt ihrem Stuhl hinter ihm herkäme. Das Geräusch seiner eiligen Schritte auf den Betonstufen war ohrenbetäubend. Obwohl die Lastwagenfahrerin in einem Haus mit nur wenigen Stockwerken wohnte, wand und wand sich die Treppe, als führe sie hinab in die Tiefen der Hölle. Auf einem Treppenabsatz rannte er geradewegs gegen eine ältere Frau, die die Treppe hochkam. Ihr runder Bauch fühlte sich wie ein Ledersack an, der mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllt war. Statt dem Druck nachzugeben, veränderte die Flüssigkeit bloß ihre Lage. Dann sah er, wie sie hysterisch mit den kurzen Armen wedelnd rückwärts die Treppe hinunterfiel. Ihr Gesicht war sehr breit und sehr bleich und sah aus wie ein Kopf Winterkohl. Der Ermittler verfluchte stumm sein Pech und fühlte plötzlich, wie in seinem Hirn ein ganzes Beet von Giftpilzen wuchs. Er sprang zum nächsten Absatz hinunter, um der Frau auf die Beine zu helfen. Sie stöhnte mit geschlossenen Augen. Ihre Stimme klang sanft und traurig. Der Ermittler hatte ein schlechtes Gewissen. Er beugte sich über sie und legte den Arm um ihre Taille, um ihr aufzuhelfen. Sie war nicht nur schwer, sondern sie hörte auch nicht auf, sich hin und her zu wälzen. Die Anstrengung ließ die Blutgefäße im Kopf des Ermittlers bis zum Platzen anschwellen. Die Stelle an seinem Nacken, wo ihn die Lastwagenfahrerin gebissen hatte, durchzuckte ein stechender Schmerz. Schließlich half ihm die alte Dame, indem sie ihre Arme um seinen Nacken legte, und gemeinsam schafften sie es, die Frau wieder auf die Beine zu bringen. Aber ihre fettigen Finger auf seinem verwundeten Nacken bereiteten ihm so unerträgliche Schmerzen, dass er in kalten Schweiß ausbrach. Ihr Atem roch so abscheulich nach verfaultem Obst, dass er seinen Griff lockerte. Sie fiel kopfüber die Treppe hinab und hüpfte dort herum wie ein Sack voll Mungobohnen. Dabei klammerte sie sich verzweifelt an sein Hosenbein. Ihm fiel auf, dass ihre beiden Handrücken mit Fischschuppen bedeckt waren, und plötzlich sah er, wie zwei Fische – ein Karpfen und ein Aal – sich aus der Plastiktüte befreiten, die sie in der Hand gehalten hatte. Der Karpfen sprang japsend über die Stufen, während sich der Aal – gelbes Gesicht, grüne Augen, zwei aufgestellte drahtige Barthaare – träge wand. Das Wasser aus der leckenden Tüte tropfte über die Treppe, erst auf eine Stufe, dann auf die nächste. Er hörte sich selbst mit ausdrucksloser Stimme fragen:
    «Alles in Ordnung, Tante?»
    «Ich habe mir die Hüfte gebrochen», antwortete sie, «und meine Därme sind zerrissen.»
    Der Ermittler hörte der detaillierten Beschreibung ihrer Verletzungen aufmerksam zu und ahnte, dass sich schon wieder eine ganze Menge Unheil über seinem vom Schicksal verfolgten Kopf gesammelt hatte, dass er noch tiefer in der Bredouille steckte als der unglückliche Karpfen. Natürlich ging es dem sorglosen Aal weitaus besser als ihm. Instinktiv wollte er die Flucht vor der alten Frau ergreifen, aber stattdessen beugte er sich über sie und sagte:
    «Ich bringe dich ins Krankenhaus, Tante.»
    Die alte Frau antwortete:
    «Ich habe mir das Bein gebrochen, und meine Nieren sind verletzt.»
    Er fühlte, wie das Gift sich in seinen Adern sammelte. Der Karpfen sprang ihm auf den Schuh. Ein Tritt, und der Fisch flog gegen das eiserne Treppengeländer.
    «Du schuldest mir einen Fisch.»
    Er trat auf den Aal, der an ihm vorbeigleiten wollte.
    «Ich bringe dich ins Krankenhaus», wiederholte er.
    Die alte Frau klammerte sich verzweifelt an seine Beine.
    «Kommt nicht infrage!»
    «Tante», sagte er, «du hast dir die Hüfte gebrochen, du hast dir das Bein gebrochen, deine Därme sind zerrissen, und deine Nieren sind verletzt. Wenn du nicht ins Krankenhaus gehst, wirst du hier an Ort und Stelle sterben. Willst du das etwa?»
    «Wenn ich sterbe, nehme ich dich mit», sagte die alte Frau entschlossen. Er spürte, wie sie sich immer stärker an ihn

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