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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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klammerte.
    Der Ermittler seufzte resigniert. Er blickte die Treppe hinunter, sah die beiden sterbenden Fische, sah den trüben grauen Himmel draußen vor dem zerbrochenen Fenster und wusste nicht, was er tun sollte. Durch das Fenster wehte ein überwältigender Alkoholgeruch herein, und man hörte ein lautes Hämmern, als schlüge jemand mit einem Hammer auf eine Blechplatte. Ihm war kalt bis in die Knochen, und er hätte einen Schnaps brauchen können.
    Über ihm und der alten Frau erklang grimmig lautes Gelächter. Dann hörte man Schritte. Die Lastwagenfahrerin hüpfte aufrecht stehend mit kleinen Sprüngen die Treppe herab und zerrte dabei ihren Stuhl hinter sich her.
    Er lachte verlegen, als er sie kommen sah. Er war nicht weiter beunruhigt; im Gegenteil: Er freute sich, sie wiederzusehen. Wenn schon mit einer Frau geschlagen, dachte er, dann besser mit einer jungen als mit einer alten. Er lächelte. Und dieses Lächeln schenkte seinem Herzen Ruhe, als habe die Sonne der Hoffnung den Schleier der Verzweiflung zerrissen. Er bemerkte, dass sie das Taschentuch, mit dem er sie geknebelt hatte, bereits durchgebissen hatte, was seine Bewunderung für ihre scharfen Zähne erhöhte. Der Stuhl, an den sie gefesselt war, machte ihr Schwierigkeiten. Mit jedem neuen Sprung schlugen seine Beine hart gegen die Treppenstufen. Er nickte ihr zu, sie erwiderte sein Nicken. Neben der alten Frau kam sie zum Stillstand, schwang ihren Körper um die eigene Achse wie ein Tiger, der mit dem Schwanz zuschlägt, und schleuderte den Stuhl gegen den Körper der alten Frau. Er hörte ihren wütenden Befehl:
    «Lass ihn los!»
    Die alte Frau blickte auf und murmelte etwas, das wie ein Fluch klang, bevor sie die Arme fallen ließ. Endlich frei, trat der Ermittler einen Schritt zurück, um ein wenig Abstand von der alten Frau zu gewinnen.
    Die Lastwagenfahrerin fragte die alte Frau:
    «Weißt du, wer das ist?»
    Die alte Frau schüttelte den Kopf.
    «Das ist der Bürgermeister.»
    Die alte Frau stand mühsam auf, klammerte sich ans Treppengeländer und blieb am ganzen Leibe zitternd stehen.
    Der Anblick rührte den Ermittler, und er bot ihr rasch noch einmal an:
    «Ich bringe dich ins Krankenhaus, Tante, damit sie dich untersuchen.»
    Die Lastwagenfahrerin sagte:
    «Bind mich los!»
    Er tat es, und der Stuhl fiel hinter ihr zu Boden. Als die Lastwagenfahrerin mit beiden Armen weit ausholte, drehte sich der Ermittler um und rannte davon. In seinem Rücken hörte er die Schritte seiner Verfolgerin.
    Er stürzte zur Haustür hinaus und blieb mit dem Ärmel an einem abgestellten Fahrrad hängen. Das Rad fiel scheppernd um, seine Jacke zerriss mit hellem Surren. Das Missgeschick hielt ihn gerade lange genug auf, dass die Lastwagenfahrerin ihm den Strick wie ein Lasso um den Hals werfen konnte. Sie zog die Schlinge zu, und ihm stockte der Atem.
    Sie zerrte ihn an dem Strick hinter sich her wie einen Hund oder sonst ein Tier. Nieselregen trübte seinen Blick. Vergebens griff er nach der Schlinge. Ein runder Gegenstand schoss an ihm vorbei und erschreckte ihn zu Tode. Dann sah er einen triefnassen, matschbraunen kleinen Jungen mit kahl geschorenem Schädel, der an ihm vorbeischoss und hinter einem Fußball herjagte. Er drehte den Kopf und bettelte:
    «Liebe kleine Frau, lass mich bitte gehen. Es wäre mir sehr peinlich, wenn man mich so sähe …»
    Mit einer schnellen Bewegung des Handgelenks zog sie die Schlinge noch enger zu.
    «Dafür kannst du mir zu gut laufen.»
    «Ich werde nicht weglaufen. Ich werde nicht weglaufen. Ich würde nicht weglaufen, wenn es um mein Leben ginge.»
    «Versprichst du mir, dass du mich mitnimmst, dass du mich nie verlassen wirst?»
    «Ich verspreche es. Ehrenwort.»
    Sie lockerte den Strick, sodass der Ermittler seinen Kopf aus der Schlinge ziehen konnte. Wütende Beschimpfungen lagen ihm auf der Zunge, aber die süße Stimme, die aus ihrem zarten Munde drang, ließ ihn einhalten.
    «Ach du! Was bist du doch für ein dummer kleiner Junge. Wenn ich nicht auf dich aufpassen würde, wärst du jedermann da draußen hilflos ausgeliefert.»
    Ihre Worte ließen warme Ströme durch seinen Unterleib wirbeln. Gerührt hieß der Ermittler das Glück willkommen, dass sich wie ein Frühlingsregen über ihn ergoss und nicht nur seine Augenlider, sondern auch seine Augen feucht werden ließ.
    Der dünne Nieselregen warf sein dichtes, sanftes Netz über die Häuser, über die Bäume, über alles. Er spürte, wie die Frau nach seinem

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