Die Schnapsstadt
Arm griff, hörte ein helles Klicken und sah, wie sich ein rosa Regenschirm in ihrer anderen Hand öffnete und sich über ihre beiden Köpfe wölbte. Als wäre es die natürlichste Reaktion der Welt, legte er den Arm um ihre Taille und nahm ihr wie ein besorgter Ehemann den Schirm ab. Er fragte sich, wie der Regenschirm wohl aus dem Nichts aufgetaucht war. Ein intensives Glücksgefühl besänftigte sein Misstrauen.
Der Himmel war so dunkel und wolkenverhangen, dass er nicht wusste, ob es Vormittag oder Nachmittag war. Eine Uhr wäre nützlich gewesen, aber der kleine Dämon hatte die seine gestohlen. Der leichte Regen trommelte leise auf den Schirm. Ein süßes und zugleich melancholisches Geräusch, ein Klang wie edler französischer Wein: traurig, gefühlvoll, ängstlich, besorgt. Er schlang den Arm enger um sie, bis er ihre feuchte, kalte Haut unter dem Seidenanzug spüren konnte. Ihr Magen zuckte schwach unter seiner Hand. Eng aneinander geschmiegt gingen sie zwischen zwei Reihen von Stechpalmen die geteerte Straße zur Brauereihochschule entlang. Das feuchte Laub glitzerte wie der Nagellack junger Mädchen. Von den Abraumhalden vor dem Bergwerk stieg ein weißer Rauch auf, der nach brennender Kohle roch. Die schwere Luft drängte den hässlichen schwarzen Rauch zurück, der sich aus den Schornsteinen quälte, und verwandelte ihn in schwarze Drachen, die sich vor dem tiefen Himmel krümmten und wanden.
Arm in Arm verließen sie den Campus der Hochschule und schlenderten unter den Weiden am Ufer des kleinen Flusses entlang, über dem dunkler Nebel und Alkoholduft lagen. Von Zeit zu Zeit strichen tief herabhängende Weidenzweige über das Nylondach des Regenschirms und ließen große Regentropfen die Rippen herablaufen. Regennasses goldgelbes Laub lag auf dem engen Pfad. Plötzlich ließ der Ermittler den Regenschirm sinken und starrte gedankenverloren auf die grünen Weidenzweige.
«Wie lange bin ich schon in Jiuguo?»
«Wieso fragst du mich? Und wen sollte ich fragen?», antwortete die Lastwagenfahrerin.
«So geht das nicht», sagte der Ermittler. «Ich muss mich endlich an die Arbeit machen.»
Ein Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln. Spöttisch sagte sie:
«Ohne mich kommst du den Dingen nie auf den Grund.»
«Wie heißt du?»
«Was ist mit dir los?», fragte sie. «Du hast mit mir geschlafen und weißt nicht mal meinen Namen?»
«Tut mir Leid», sagte er. «Ich habe dich gefragt, aber du wolltest es mir nicht sagen.»
«Du hast mich nie gefragt.»
«Hab ich wohl.»
«Nein, hast du nicht.» Sie versetzte ihm einen Tritt. «Du hast mich nie gefragt.»
«Also gut. Ich hab dich nie gefragt. Dann frag ich dich eben jetzt. Wie heißt du?»
«Lass schon gut sein», sagte sie. «Du bist Detektiv Hunter, und ich bin dein Kumpel Micky. Wie wär's damit?»
«Ein gutes Gespann», sagte er und streichelte ihre Hüfte. «Und wohin gehen wir jetzt?»
«Gegen wen willst du zuerst ermitteln?»
«Gegen eine Bande von perversen Verbrechern, die kleine Kinder umbringen und aufessen und an deren Spitze dein eigener Mann steht.»
«Ich bringe dich zu jemand, der über alles Bescheid weiß, was es in Jiuguo zu wissen gibt.»
«Wer ist das?»
«Das sag ich dir nur, wenn du mich küsst.»
Er küsste sie auf die Wange.
«Ich bringe dich zu Yu Yichi, dem Besitzer der Zwergentaverne.»
Arm in Arm schlenderten sie unter dem dunklen Himmel durch die Eselsgasse. Der Ermittler war sich sicher, dass die Sonne schon hinter den Bergen untergegangen war – nein, dass sie in diesem Augenblick hinter den Bergen unterging. Er versuchte, sich die herzbewegende Szene vorzustellen: Das gewaltige rote Sonnenrad wird zur Erde herniedergezwungen und tränkt mit Tausenden von strahlenden Speichen die Dächer, die Bäume, die Gesichter der Spaziergänger und die Pflastersteine der Eselsgasse in die tragischen und zugleich heroischen Farben der gefallenen Helden. Xiang Yu, der Großkönig von Chu, steht am Ufer des Flusses Wu. In der einen Hand hält er den Speer, in der anderen die Zügel seines Schlachtrosses, seine Blicke schweifen über die wilden Wasser des Stroms. Aber in diesem Augenblick schien die Sonne nicht auf die Eselsgasse. Nebelschwaden verhüllten den Körper des Sonderermittlers, melancholische Gefühle seinen Geist. Plötzlich wurde ihm klar, wie sinnlos seine Reise nach Jiuguo war – absurd und lächerlich, eine Farce. Im schmutzigen Wasser des Straßengrabens trieben ein verfaulter Kohlkopf, eine halbe
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