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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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wo die meisten Geschäfte geschlossen waren, brannten auf der Straße nur noch wenige Lichter. Aber in den Höfen hinter den Geschäften war es überall hell. Von einem Hinterhof nach dem anderen drangen laute, dumpfe Geräusche auf die Straße, und der Ermittler fragte sich, was da wohl vor sich ging. Die Lastwagenfahrerin lieferte die Antwort:
    «Die Esel werden nachts geschlachtet.»
    Von einem Augenblick zum andern wurde die Straße glatt. Die Lastwagenfahrerin rutschte aus und fiel schwer auf den Hintern. Als er versuchte, ihr auf die Füße zu helfen, fiel auch er hin. Gemeinsam zerstörten sie den Regenschirm und zerbrachen seine Rippen. Sie schleuderte den nutzlosen Schirm in den Straßengraben. Der Nieselregen wurde zu Hagel. Die Luft war plötzlich kalt und nass. Ein kühler Windstoß presste sich zwischen den Zähnen hindurch in seinen Mund. Er drängte sie, weiterzugehen. Die enge dunkle Eselsgasse war zu einem Ort des Schreckens geworden, zum Schauplatz verbrecherischer Umtriebe. Hand in Hand mit seiner Geliebten betrat der Sonderermittler die Höhle des Tigers. Dieser Satz war in großen Buchstaben in seinem Gehirn zu lesen. Eine Herde schwarz glänzender Esel kam ihnen entgegen und versperrte den Weg. In diesem Augenblick sahen sie unter einer roten Laterne das große Reklameschild: «Yichis Taverne».
    Die Esel drängten sich eng aneinander. Grob geschätzt waren es vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Tiere. Alle waren bis in die letzte Haarspitze hinein glänzend schwarz. Ihr Fell leuchtete im Regen. Sie waren gut gefüttert und hatten wohl geformte Köpfe. Sie schienen recht jung zu sein. Entweder um gegen die Kälte anzukämpfen oder weil sie etwas Erschreckendes ahnten, das in der Eselsgasse in der Luft lag, drängten sie sich so eng wie möglich aneinander. Jedes Mal wenn die hinteren Tiere sich tiefer in die Herde hineindrängten, stießen sie ein paar von denen, die in der Mitte liefen, aus der Herde heraus. Von dem Geräusch, mit dem die Eselsfelle sich aneinander rieben, bekam der Ermittler eine Gänsehaut. Er sah, dass einige Esel den Kopf hoch erhoben trugen; andere hatten ihn gesenkt. Aber jeder einzelne zuckte mit den langen Ohren. Sie schoben sich vorwärts, drängten sich in die Mitte und wurden herausgedrängt. Die Hufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster wie applaudierendes Publikum. Die Herde, die vor ihnen vorüberzog, glich einem schwarzen Berg. Den Eseln folgte ein schwarzer Jüngling, der hinter der Herde hüpfte. Ding Gou'er bemerkte eine ausgeprägte Ähnlichkeit zwischen dem schwarzen Jüngling und dem schuppigen Jungen, der seine Kleider gestohlen hatte. Aber als er den Mund öffnete, um ihm etwas zuzurufen, gab der Jüngling einen grellen Pfiff von sich, der den schweren Vorhang der Nacht durchschnitt und die Eselsherde in lautes Geschrei ausbrechen ließ. Aus Erfahrung wusste der Ermittler, dass Esel, wenn sie schreien, die Hufe gegen die Erde stemmen und den Kopf heben, um ihre ganze Energie auf den Schrei zu konzentrieren. Aber diese Esel schrien zu seiner Verblüffung im Laufen. Ein seltsamer, zu Herzen gehender Anblick. Er ließ die Hand der Lastwagenfahrerin los und stürmte furchtlos voran. Er war entschlossen, den jungen Eselshirten in seine Gewalt zu bringen. Aber alles, was er erreichte, war, dass er mit Schwung zu Boden fiel und mit dem Hinterkopf auf dem Pflaster aufschlug. Ein ungewohntes Summen machte sich in seinen Ohren breit, und vor seinen Augen tanzten zwei gelbe Scheiben.
    Als der Ermittler wieder zu Bewusstsein kam, waren die Eselsherde und ihr Hirte nirgends mehr zu sehen. Nichts war geblieben als die einsame, traurige Eselsgasse, die sich vor ihm erstreckte. Die Lastwagenfahrerin klammerte sich an seine Hand.
    «Hast du dir wehgetan?», fragte sie offensichtlich besorgt.
    «Alles in Ordnung», antwortete er.
    «Das glaub ich nicht. Du bist böse gestürzt», schluchzte sie. «Du hast sicher eine Gehirnerschütterung oder so etwas.»
    Erst diese Worte machten ihn auf seine bohrenden Kopfschmerzen aufmerksam. Die ganze Welt sah aus, wie auf dem Negativ eines Fotos. Das Haar der Lastwagenfahrerin, ihre Augen und ihr Mund waren bleich wie Quecksilber.
    «Ich habe Angst, dass du stirbst …»
    «Ich sterbe nicht», sagte er. «Warum versuchst du, mich zu verhexen, indem du vom Tod sprichst, wenn ich meine Ermittlungen gerade erst aufgenommen habe?»
    «Dich verhexen?», antwortete sie wütend. «Ich habe gesagt, ich habe Angst, dass du stirbst.»
    Seine

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