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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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hauptsächlich deshalb nicht von ihr scheiden lassen, weil ich an meiner Schwiegermutter hänge.
    Meine Schwiegermutter trank Schwalbennestersuppe und aß kleine Schwalben und wuchs zu einem kräftigen, gesunden Kind heran. Im Alter von vier Jahren war sie so groß und so intelligent wie eine normale Zehnjährige. Sie war überzeugt davon, dass ihre Schwalbendiät der Grund dafür war. Meine Schwiegermutter sagte, in einem gewissen Ausmaß sei sie von männlichen Schwalben und ihrem kostbaren Speichel genährt und großgezogen worden, weil ihre eigene Mutter wegen der vier Zähne, mit denen sie zur Welt gekommen war, Angst hatte, ihr die Brust zu geben. Was für ein Säugetier würde so etwas tun?, sagte sie grollend. Sie behauptete, der Mensch sei das grausamste und rücksichtsloseste unter allen Säugetieren, denn nur eine menschliche Mutter könne sich weigern, ihrem eigenen Kind die Brust zu geben.
    Die Familie meiner Schwiegermutter lebte in einem abgelegenen Küstendorf im Südosten. An sonnigen Tagen saß sie am Strand und blickte auf die schattigen, stahlgrünen Inseln hinaus, in deren riesigen Felsenhöhlen die Schwalben nisteten. Die meisten Dorfbewohner waren Fischer; nur der Vater meiner Schwiegermutter und ihre sechs Onkel sammelten Schwalbennester, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wie das schon ihre Vorfahren getan hatten. Es war ein gefährlicher, aber einträglicher Beruf. Die meisten Familien hätten ihn nicht ausüben können, selbst wenn sie es gewollt hätten. Deshalb habe ich vorhin gesagt, meine Schwiegermutter stamme aus einer Familie, die seit Generationen Schwalbennester sammelte.
    Meine Schwiegermutter sagte, ihr Vater und ihre Onkel seien allesamt starke, besonders sportliche Männer gewesen, deren Körper nicht ein Gramm Fett aufwiesen, nichts als magere, eiweißreiche, dunkelfarbige Muskeln, die aussahen wie Zöpfe aus Hanf. Jeder, der solche Muskeln hat, muss mehr sein als ein Affe. Ihr Vater besaß sogar zwei Affen, von denen er behauptete, sie seien die Hauslehrer der Familie. Außerhalb der Saison lebten ihr Vater und ihre Onkel von dem, was sie für die im Vorjahr gesammelten Nester bekommen hatten und bereiteten sich auf die nächste Sammelsaison vor. Fast jeden Tag zogen sie mit den Affen in die Berge und ließen sie auf Felsen und Bäume klettern, während sie die Affen imitierten. Meine Schwiegermutter sagte, einige Nestsammler auf der Malaiischen Halbinsel hätten versucht, Affen zum Nestsammeln abzurichten, hätten damit aber wenig Erfolg gehabt. Die Unzuverlässigkeit der Affen beeinflusste die Produktionsziffern. Sie sagte, noch mit sechzig sei ihr Vater so wendig gewesen wie eine Schwalbe und habe wie ein Affe an schlüpfrigen Bambusstauden hochklettern können. Jedenfalls waren aufgrund ihres Erbguts und ihrer Ausbildung alle Mitglieder der Familie meiner Schwiegermutter geschickt darin, Klippen zu besteigen und auf Bäume zu klettern. Meine Schwiegermutter sagte, der beste Kletterer sei ihr jüngster Onkel gewesen, der auf der Suche nach Schwalbennestern geschickt wie ein Gecko einen mehrere Meter hohen Felshang ohne jede Ausrüstung mit nackten Händen besteigen konnte. Sie sagte, sie habe fast vergessen, wie ihre anderen Onkel aussahen, aber an diesen Onkel könne sie sich deutlich erinnern. Sein Körper war von toter Haut wie Fischschuppen bedeckt und er hatte ein hageres, ausgetrocknetes Gesicht, in dem zwei blaue Augen melancholisch glänzten.
    Meine Schwiegermutter sagte, in dem Sommer, in dem sie ihren Vater und ihre Onkel zum ersten Mal auf die Inseln begleitete, um Schwalbennester zu sammeln, sei sie sieben Jahre alt gewesen. Sie besaßen ein zweimastiges Boot aus lackiertem Kiefernholz, das nach Wald roch. An diesem Tag wehte der Wind aus Südost und jagte lange schaumgekrönte Wellen vor sich her. Der weiße Sandstrand leuchtete hell im Sonnenlicht. Meine Schwiegermutter sagte, sie sei oft von einem blendend weißen Licht aus dem Schlaf gerissen worden. Wenn sie in Jiuguo im Bett lag, hörte sie im Traum oft die Meereswellen des Südens und roch den Duft der See. Ihr Vater rauchte Pfeife und gab seinen Brüdern Anweisungen für das Beladen des Boots mit Vorräten, Frischwasser und grünen Bambusstangen. Zum Schluss führte einer ihrer Onkel einen kräftigen männlichen Wasserbüffel herbei, dem man einen Streifen roten Samt um die Hörner gebunden hatte. Die Augen des Tiers waren blutunterlaufen, und unter seinem Maul sammelte sich weißer Schaum, als tobe

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