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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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mich nicht allzu sehr interessierte. Was mich fesselte, war das, was sie über das Sammeln von Schwalbennestern erzählte, über ihre Familie, über sich selbst.
    Meine Schwiegermutter stammt aus einer Familie, die seit Generationen Schwalbennester sammelte. Schon im Mutterleib hörte sie das klagende Tschilpen der Schwalben und nahm die Nährstoffe aus ihren Nestern auf. Ihre Mutter war eine gefräßige Frau, deren Appetit ins Ungemessene wuchs, wenn sie schwanger war. Oft aß sie hinter dem Rücken ihres Mannes Schwalbennester, und nie wurde sie erwischt, denn sie hatte Übung darin, Lebensmittel zu stehlen. Meine Schwiegermutter sagte, ihre Mutter sei mit Zähnen so hart wie Stahl zur Welt gekommen, Zähnen, die selbst zähe trockene Schwalbennester kauen konnten. Sie stahl nie ein ganzes Nest – denn ihr Mann zählte immer sorgfältig nach –, sondern biss geschickt ein oder zwei Zentimeter von der Unterseite ab, da, wo das Nest beim Einsammeln mit dem Messer vom Stein getrennt worden war, sodass sie keine Spuren hinterließ. Meine Schwiegermutter sagte, ihre Mutter habe nur die besten «Beamtennester» gegessen, unbehandelte Nester, die besonders nahrhaft seien. Meine Schwiegermutter sagte, alle beliebten Lebensmittel verlören bei der Zubereitung einen beachtlichen Teil ihres Nährwerts. Der Fortschritt, sagte sie, hat immer seinen Preis. Die Menschen haben das Kochen erfunden, um ihrem Geschmackssinn zu schmeicheln, und dabei einen Teil ihrer wilden, tapferen Natur geopfert. Der Grund dafür, dass die Eskimos, die nahe am Nordpol leben, so kräftige Körper haben und extreme Kälte ertragen können, ist zweifellos, dass sie rohes Seehundfleisch essen. Wenn sie eines Tages die komplizierten und raffinierten Kochtechniken der Chinesen zu beherrschen lernen, werden sie es in ihrer Heimat nicht mehr aushalten. Die Mutter meiner Schwiegermutter aß sehr viele rohe Schwalbennester, und deshalb kam meine Schwiegermutter als gesundes Neugeborenes mit dunklem schwarzem Haar und rosa Haut zur Welt. Ihre Stimme war lauter als die jedes männlichen Säuglings, und sie hatte vier Zähne im Mund. Ihr Vater, ein abergläubischer Mann, der glaubte, dass ein Kind, das mit Zähnen zur Welt kommt, der Familie Unglück bringt, warf meine Schwiegermutter unter das Unkraut im Hof. Es war tiefer Winter. Obwohl es in Guangdong nie schrecklich kalt wird, kann eine Dezembernacht durchaus frostig sein. Meine Schwiegermutter verbrachte die Nacht draußen in der Kälte unter dem Unkraut und überlebte. Daraufhin überlegte es sich ihr Vater anders und holte sie wieder herein.
    Meine Schwiegermutter sagte, ihre Mutter sei sehr hübsch gewesen. Sie sagte, ihr Vater sei mit dichten, schräg geschnittenen Augenbrauen, tief liegenden Augen, einer flachen Nase, dünnen Lippen und einem Spitzbärtchen am Kinn zur Welt gekommen. Der Vater meiner Schwiegermutter wirkte älter, als er war. Stundenlanges Klettern über steile Hügel und durch enge Klippen hatte ihm einen eingefallenen, hageren Ausdruck verliehen. Ihre Mutter dagegen stahl täglich nahrhafte Schwalbennester und hatte einen rosigen Teint und eine helle feuchte Haut wie Lilien im Juni. Als meine Schwiegermutter ein Jahr alt war, brannte ihre Mutter mit einem Schwalbennesthändler nach Hongkong durch, und meine Schwiegermutter wuchs allein mit ihrem Vater auf. Sie sagte, nachdem ihre Mutter durchgebrannt war, habe ihr Vater jeden Tag ein Schwalbennest für sie gekocht. Man kann wohl sagen, dass sie mit einer Diät von Schwalbennestern aufgewachsen ist. Meine Schwiegermutter sagte, als sie mit meiner Frau schwanger war, habe sie keinen Bissen Schwalbennest bekommen, denn das war in den Sechzigern, als das Leben für alle schwer war. Deshalb sieht meine Frau aus wie ein schwarzer Affe. Meine Frau könnte besser aussehen, wenn sie Schwalbennester äße, aber sie weigert sich. Natürlich wäre das, auch wenn sie gewollt hätte, schwierig gewesen, denn meine Schwiegermutter war erst seit kurzem Leiterin der Feinschmeckerabteilung der Akademie für Kochkunst, und bevor sie diesen Posten übernahm, wäre es ihr so gut wie unmöglich gewesen, an Schwalbennester heranzukommen. Das Schwalbennest zweiter Wahl, das sie für mich zubereitete, stammte nicht aus normalen Quellen, und das beweist, dass sie mich recht lieb hatte, lieber jedenfalls als meine Frau. Bis zu einem gewissen Grade habe ich meine Frau geheiratet, weil ihr Vater mich als Professor gut behandelt hat. Ich habe mich

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