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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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gefunden hatte. Dann fiel sein Blick auf eine glänzend schwarze Schrotflinte, die an der Wand hing. Das war genau das richtige Bild, um ihn aus seiner Depression zu reißen. Unvermittelt musste er an seine panische Flucht vor der Gefahr denken, die nun auch schon so lange zurücklag, an den geisterhaften alten Mann, der ohne Genehmigung Wantans verkaufte, an den alten Revolutionär, der den Heldenfriedhof bewachte, an den tanzenden Geist des Maotai mit der roten Schärpe über der Brust und an den wilden, Furcht einflößenden Hund mit dem goldgelben Fell … Sein Verstand arbeitete wieder auf vollen Touren, aber seine Gedanken waren hoffnungslos verwirrt, als wollten alle Blumen auf einmal blühen. Es war alles wie ein Traum, aber nicht ganz wie ein Traum, lebensecht und phantastisch zugleich. Das Bild der üppigen Lastwagenfahrerin zeichnete sich vor seinem inneren Auge ab. Genau in diesem Moment sprang eine große Ratte auf seine Schulter und biss ihn mit unglaublicher Geschicklichkeit in den Hals, sodass er all diese wirren Gedanken aus seinem Bewusstsein streichen und sich auf das Hier und Heute konzentrieren musste. Er schüttelte sich am ganzen Körper und schleuderte die Ratte dahin zurück, wo sie hergekommen war. Ohne sein Zutun rang sich ein Schrei aus seiner Kehle, aber der bizarre Anblick, der sich vor ihm auftat, ließ ihn verstummen. Der alte Revolutionär lag von einem Dutzend großer Ratten bedeckt auf seinem gemauerten Bett. Die hungrigen Ratten – vielleicht war es auch gar nicht Hunger, was sie antrieb – hatten bereits seine Nase und seine Ohren abgenagt und seine Lippen gefressen, sodass das verfärbte Zahnfleisch sichtbar wurde. Der Mund, aus dem einst eine witzige Bemerkung nach der anderen geflossen war, war unbeschreiblich hässlich, und der abgenagte Schädel des alten Mannes bot einen abscheulichen Anblick. Inzwischen steigerten sich die Ratten, die sich jetzt über die Hände des alten Revolutionärs hermachten, in fieberhafte Gier. Die weißen Knochen einer Hand, die einst so geschickt mit einem Gewehr oder einer Keule umgehen konnte, sahen ohne die Haut, die sie früher bedeckt hatte, aus wie geschälte Weidenruten. Der Ermittler war dem abgehärteten alten Revolutionär, der ihm zu Hilfe gekommen war, als er dringend Hilfe brauchte, wohlgesinnt. Er raffte seinen müden Körper zusammen und stürzte sich auf die Ratten, um sie zu vertreiben. Aber als er sah, wie sich die Farbe ihrer Augen, in dem Augenblick, als er sie angriff, von tiefem Schwarz zu weichem Rosa und dann zu dunklem Grün veränderte, war er so verblüfft, dass er auf der Stelle stehen blieb und bis zur Wand zurückwich. So sah er den Ratten zu, wie sie sich zähnefletschend, mit Schaum vor dem Mund und wutglühenden Augen zu einer Angriffseinheit formierten. Der Ermittler spürte die Schrotflinte in seinem Rücken und kam auf eine Idee. Er drehte sich wie ein Kreisel, griff nach der Flinte, zielte und legte den Finger an den Abzug. So bot er der drohenden Horde die Stirn.
    «Keine Bewegung!», schrie der Ermittler. «Noch ein Schritt, und ich jage euch in die Luft.»
    Die Ratten tauschten spöttische Blicke aus und sahen den Ermittler an, der vor Wut beinah platzte.
    «Ihr gottverdammten Ratten!», fluchte er. «Ihr werdet schon noch merken, mit wem ihr es zu tun habt.»
    Kaum waren die Worte seinem Munde entflohen, da dröhnte eine Explosion wie ein Donnerschlag durch den Raum. Ein strahlender Blitzschlag ließ Rauchwolken in die Luft steigen. Als der Rauch sich verzog, entdeckte der Ermittler zu seiner Erleichterung, dass der eine Schuss die Reihen der Ratten kräftig dezimiert hatte. Die Überlebenden verfluchten ihre Eltern, dass sie ihnen nicht noch vier Beine mehr mitgegeben hatten, und liefen raschelnd über Dachbalken, klammerten sich an Wandpfeiler, flogen über den Dachstuhl, bis sie innerhalb von Sekunden spurlos verschwunden waren. Entsetzt stellte der Ermittler fest, dass der Schuss aus der Schrotflinte nicht nur die Ratten getötet oder vertrieben, sondern auch den Kopf des alten Revolutionärs durchlöchert hatte, der jetzt aussah wie ein Sieb. Das Gewehr vor die Brust geklammert, lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand und rutschte mit weichen Knien auf den Boden. Sein Herz schlug schmerzlich. Der alte Revolutionär, sagte er sich, war offensichtlich dem Angriff der Ratten zum Opfer gefallen, aber wer würde ihm das glauben, wenn er einmal das von Schrotkugeln durchlöcherte Gesicht des alten

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