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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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seinem Blick eine breitere Wasserfläche auf. In den Fenstern der alten Häuser brannten schon die Lampen. Eins nach dem anderen legten die Boote am Ufer an. Die verliebten jungen Männer und Frauen gingen an Land und verschwanden schnell in den belebten Straßen der Stadt. Seit der Ermittler die Stadt betreten hatte, war er von dem Gefühl besessen, er bewege sich durch eine historische Rekonstruktion. Die Fußgänger glitten vorüber wie Geister. Ihr zielloses Dahinschweben gab ihm das Gefühl, leicht wie eine Feder zu sein. Seine Füße schienen den Boden nicht zu berühren.
    Später folgte er den Menschen, die den Tempel der Unsterblichen Mutter besuchten. Er sah eine Schar schöner Frauen, die vor der goldenen Statue einer Matrone mit großem Kopf und fleischigen Ohren knieten. Das Gewicht ihrer Körper lag auf ihren Fersen. Bezaubert bewunderte er lange Zeit ihre hochhackigen Schuhe und stellte sich die Löcher vor, die sie in den Boden bohrten. Ein kahlköpfiger kleiner Mönch, der sich hinter einem Pfeiler versteckt hatte, hielt ein Katapult in der Hand und feuerte kleine Spuckeklößchen auf die erhobenen Hintern der Frauen. Er verfehlte sein Ziel nicht ein einziges Mal. Das bestätigten die ärgerlichen Ausrufe, die unter den Knien der Unsterblichen Mutter erklangen. Nach jedem Aufschrei faltete er die Hände, schloss die Augen und rezitierte eine buddhistische Beschwörungsformel. Ding Gou'er fragte sich, an was der Mönch wohl denken mochte. Er trat neben ihn und klopfte mit dem Mittelfinger auf seinen kahlen Kopf. Auch das rief einen kleinen Aufschrei hervor. Aber es war eine Mädchenstimme! Plötzlich umringten ihn Dutzende von Leuten, die ihm Vandalismus und Belästigung einer Nonne vorwarfen: genau wie in Lu Xuns Wahrer Geschichte des A Q. Ein Polizist packte ihn beim Nacken und zerrte ihn aus dem Tempel. Dann versetzte er ihm einen Stoß und einen Tritt in den Hintern. Ding Gou'er fand sich auf allen vieren auf der Tempeltreppe wieder wie ein Hund, der sich in Scheiße wälzt. Seine Lippe blutete, ein Schneidezahn war locker, und sein Mund füllte sich mit faulig schmeckendem Blut.
    Als er später eine gewölbte Brücke überquerte, sah er glitzernde Funken auf dem Wasser. Es war der Widerschein flackernder Laternen. Große Boote trieben vorbei, auf den Booten wurden Lieder gesungen und Musik gespielt, und die ganze Szene glich einer nächtlichen Prozession von Feen und Elfen.
    Noch später betrat er eine Taverne und sah ein gutes Dutzend Männer mit breitkrempigen Hüten, die sich an Fisch und Schnaps gütlich taten. Beide Düfte stiegen ihm in die Nase und ließen ihm den Speichel im Mund zusammenfließen. Nur sein Schamgefühl hielt ihn davon ab, an den Tisch zu gehen und um etwas zu essen und zu trinken zu bitten. Bald siegte der Hunger eines Wolfs über seine Zurückhaltung. Er sah eine freie Stelle, stürmte wie ein hungriger Tiger an den Tisch, griff nach einer Flasche und einem Fisch, drehte sich um und rannte zur Tür hinaus. Hinter ihm brach ein Aufstand aus.
    Wieder ein wenig später versteckte er sich im Schatten einer Mauer, um seinen Schnaps zu trinken und seinen Fisch zu essen. Von dem Fisch war nicht viel mehr als Gräten übrig, also kaute er die und schluckte sie hinunter. Die Schnapsflasche trank er bis zum letzten Tropfen leer.
    Noch später wanderte er ziellos durch die Gegend und schaute dem Spiegelbild der Sterne im Fluss und dem großen, roten Mond zu, der wie ein goldhäutiger Knabe über dem Wasser tanzte. Festlärm und Wassermusik erklangen lauter denn je zuvor über dem Fluss. Als er sich umsah, woher es kam, entdeckte er einen großen Vergnügungsdampfer, der langsam den Fluss hinabtrieb. Im Licht der hellen Lampen in den Kabinen sangen und tanzten oben an Deck junge Frauen in altmodischer Kleidung, schlugen Trommeln und bliesen Panflöten. Drinnen saßen elegant gekleidete Männer und Frauen um einen Tisch, spielten Ratespiele, tranken edlen Weinbrand und genossen die exotischen Speisen, die man ihnen aufgetragen hatte. Sie schlangen das Essen hinunter – die Frauen wie die Männer. Andere Zeiten, andere Sitten. Eine Frau mit blutroten Lippen schlang in sich hinein wie eine Sau, ohne auch nur Luft zu holen. Allein vom Zusehen wurde es Ding Gou'er schwindlig. Als sich der Dampfer seinem Standort näherte, konnte er die Gesichter der Passagiere erkennen und ihren schalen Atem riechen. Er sah bekannte Gesichter: Jin Gangzuan, die Lastwagenfahrerin, Yu Yichi,

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