Die Schnapsstadt
Abteilungsleiter Wang, Parteisekretär Li … sogar jemand, der Ding selbst aufs Haar glich. Anscheinend nahmen alle seine Freunde und Verwandten, seine Gefährten und seine Feinde an diesem kannibalischen Festmahl teil. Warum war das Festmahl kannibalisch? Weil das Hauptgericht, das ölig und duftend auf einer großen vergoldeten Platte in der Tischmitte stand, ein fetter kleiner Junge mit einem bezaubernden Lächeln war.
«Komm her, mein lieber Ding Gou'er, komm her zu mir …» In der zärtlichen Stimme der Lastwagenfahrerin konnte er etwas Neckisches und zugleich Vielversprechendes entdecken. Er sah die lilienweiße Hand, die ihm einladend zuwinkte. Hinter ihr beugte sich der wackere Jin Gangzuan über den winzigen Yu Yichi und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Das Lächeln auf seinen Lippen war herablassend; Yu Yichi grinste hämisch und wissend.
«Ich protestiere …», schrie Ding Gou'er mit letzter Kraft, während er auf den Vergnügungsdampfer zurannte. Aber bevor er ihn erreicht hatte, stolperte er und stürzte in eine offene Latrine voll von einem gärenden Brei aus all den Speisen und Getränken, die die Einwohner von Jiuguo erbrochen hatten, sowie all dem, was sie am anderen Körperende ausgeschieden hatten. Oben auf der widerlichen Flüssigkeit schwammen aufgeblähte gebrauchte Kondome: ein reicher Nährboden für alle Arten von Krankheitserregern und Mikroorganismen, ein Paradies für Fliegen, der Himmel auf Erden für Maden. Der Ermittler war überzeugt davon, dass dies nicht der Ort war, an dem er sein Leben beenden sollte. Kurz bevor sein Mund in dem Ekel erregend warmen Brei versank, rief er noch einmal aus: «Ich protestiere, ich pro…» Dann zog ihn die unwiderstehliche Macht der Schwerkraft hinab in die Tiefe und versiegelte für immer seinen Mund. In Sekundenschnelle versank der heilige Kranz der Ideale, der Gerechtigkeit, des Respekts, der Ehre und der Liebe gemeinsam mit dem vom Schicksal verfolgten Sonderermittler im tiefsten Grund der Latrine …
ZEHNTES KAPITEL
I
Yidou, mein Bruder!
Ich habe einen Freund gebeten, mir eine Fahrkarte für den Zug nach Jiuguo am 27. September zu besorgen. Laut Fahrplan sollte ich am 29. morgens um 2.30 Uhr ankommen. Ich weiß, dass das eine unmögliche Zeit ist, aber es ist der einzige Zug, der infrage kommt, und deshalb muss ich dich bitten, mich abzuholen.
Ich habe Affenschnaps gelesen und mir ein paar Gedanken dazu gemacht. Wir können uns ja darüber unterhalten, wenn ich da bin.
Mit den besten Wünschen
Mo Yan
II
Der Schriftsteller Mo Yan, ein rundlicher Mann mittleren Alters mit einer beginnenden Glatze, kleinen Augen und einem schiefen Mund, lag verhältnismäßig bequem im Liegewagen dritter Klasse – bequem jedenfalls im Vergleich mit einem Sitzplatz dritter Klasse –, aber der Schlaf floh ihn. Der Zug trug ihn hinaus in die Nacht, und die Deckenbeleuchtung erlosch; nur noch die Notbeleuchtung spendete ihr schwaches gelbes Licht. Ich weiß, dass dieser Mo Yan und ich einander in vielem ähnlich sind, aber es gibt auch viele Unterschiede. Ich bin ein Einsiedlerkrebs, und Mo Yan ist der Panzer, in dem ich wohne. Mo Yan ist der Regenmantel, der mich vor dem Sturm schützt, der Wachhund, der die kalten Winde vertreibt, eine Maske, die ich trage, um junge Mädchen aus gutem Hause zu verführen. Manchmal empfinde ich diesen Mo Yan als eine schwere Last, aber anscheinend kann ich ihn ebenso wenig loswerden, wie ein Einsiedlerkrebs seinen Panzer verlassen kann. Wenn es dunkel wird, kann ich mich von ihm befreien – wenigstens eine Zeit lang. Ich sehe zu, wie er den engen mittleren Liegeplatz füllt und seinen großen Kopf auf dem winzigen Kissen hin und her wirft. Die langen Jahre seiner Existenz als Schriftsteller haben verknöcherte Sporen aus seinem Rückgrat wachsen lassen, und sein Hals ist steif und kalt geworden und schmerzt und juckt so sehr, dass es zu einer Last geworden ist, ihn auch nur zu bewegen. Die Wahrheit ist: Dieser Mo Yan widert mich an. Gerade jetzt, in diesem Augenblick, tummeln sich bizarre Bilder in seinem Hirn: Affen, die Schnaps brennen und den Mond vom Himmel holen; ein Ermittler, der mit einem Zwerg kämpft; goldgestreifte Schwalben, die Nester aus Speichel bauen; der Zwerg tanzt auf dem Bauch einer schönen Frau; ein Doktorand der Alkoholkunde vögelt seine eigene Schwiegermutter; eine Journalistin fotografiert ein gedünstetes Kind; Tantiemen; Auslandsreisen; Leute beschimpfen … Was für ein
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