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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Mannes gesehen hatte? Die Leute würden glauben, er sei an einem Schuss ins Gesicht aus einer Schrotflinte gestorben und erst später von Ratten verunstaltet worden. Ding Gou'er, Ding Gou'er, diesmal kannst du in den Jangtse springen und wirst nicht sauber herauskommen. Der Jangtse ist noch schmutziger als der Gelbe Fluss.
    Kommt ein Heiliger zur Welt, klärt sich das Wasser des Gelben Flusses.
Dann lassen die Leute Schiffchen schwimmen, Schiffchen aus Kürbis und Melonenschalen.
Was für Schiffchen, was für Schalen? Weißer Kürbis, Wassermelonen und gelber Kürbis.
Was für Schiffchen, was für Schiffchen? Gurken, Kürbis und Melonen.
    Das alte Kinderlied klang dem verzweifelten Sonderermittler klar und vertraut in den Ohren, erst aus der Ferne, dann immer näher. Die Stimmen wurden klarer und klarer, lauter und lauter, bis sie, hell wie treibende Wolken und fließendes Wasser, zur vollen Lautstärke eines Knabenchors anschwollen. Und da, am Dirigentenpult, stand vor einem Knabenchor mit mehr als hundert Sängern der Sohn, den er so lange nicht gesehen hatte. Der Junge trug ein schneeweißes Hemd und himmelblaue kurze Hosen wie ein Wattewölkchen, das am Himmel treibt, oder eine einsame Möwe vor dem weiten blauen Himmel. Zwei Ströme trüber Flüssigkeit wie warmer Schnaps flossen aus den Augen des Ermittlers und liefen ihm feucht über Wangen und Mundwinkel. Er stand auf und streckte die Arme nach seinem Sohn aus, aber der kleine blauweiße Kerl entfernte sich langsam, und das Bild des Jungen vor seinen Augen wich der grauenhaften Szene, die er und die Ratten geschaffen hatten: dem trügerischen und doch überzeugenden Bild eines Mordes, der Jiuguo bis auf die Grundfesten erschüttern würde.
    Von dem bezaubernden Gesichtsausdruck seines Sohnes angezogen, ging der Ermittler zum Haupteingang des Heldenfriedhofs und sah dort den großen tigerähnlichen Hund, bei dessen Anblick ihm einst die Haare zu Berge gestanden hatten. Er lag mit steif ausgestreckten Beinen auf der Seite unter einer Pappel, und aus seinem Mund troff Blut. Völlig überrascht bückte sich der Ermittler und kroch durch die Hundetür. Außer ihm war kein Mensch auf der alten, von Schlaglöchern übersäten Asphaltstraße zu sehen, in deren Mitte ein einsamer Betonmast seinen Schatten warf. Die blutroten Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf das Gesicht des Ermittlers, der niedergeschlagen auf der Straße stand. Lange Zeit blieb er in Gedanken versunken stehen, und doch dachte er an nichts wirklich Fassbares.
    Das Rattern der Eisenbahn, die durch das Stadtzentrum von Jiuguo fuhr, brachte ihn auf eine Idee. Er ging die Straße entlang und schlug die Richtung zum Bahnhof ein. Aber ein Fluss, den die Abendsonne in goldenes Licht tauchte, versperrte ihm den Weg. Es war eine beeindruckende Flusslandschaft. Bunte, halb zerfallene Boote glitten über das Wasser in die Sonne. Die Frau und der Mann auf einem der Boote waren wohl ein Liebespaar, denn nur Liebende blicken eng umschlungen in schweigendem Glück geradeaus voran. Eine kräftige Frau in altmodischer Kleidung stand im Heck und bewegte angestrengt den Skullriemen hin und her. Der Riemen zerriss das glänzende Gold, das über dem Wasser lag und ließ den Gestank von verfaulenden Leichen und den Geruch von erhitztem Brennereigetreide aus dem Wasser aufsteigen. Auf den Ermittler wirkte ihre Mühe irgendwie künstlich, als spiele sie Theater, statt auf einem wirklichen Boot zu arbeiten. Das Boot glitt vorbei, und ihm folgten das nächste und das nächste und wieder das nächste. Alle Fahrgäste waren verliebte junge Männer und Frauen, und alle die Frauen, die im Heck standen, verrichteten ihre Arbeit auf die gleiche künstliche Weise. Der Ermittler war sich sicher, dass die Fahrgäste und die Frauen, die die Boote wriggten, auf irgendeiner Theaterschule gedrillt worden waren. Ohne es zu merken, folgte er den Spaziergängern auf der Uferpromenade, die mit achteckigen Zementklötzen gepflastert war. An diesem Tag im Spätherbst waren die meisten Blätter der Weidenbäume am Ufer zu Boden gefallen. Die wenigen, die noch an den Ästen hingen, sahen schön und kostbar aus, als hätte man sie aus Blattgold ausgeschnitten. Ding Gou'er folgte den langsam dahingleitenden Booten mit den Blicken und fühlte, wie tiefer Friede sein Gemüt erfüllte. Nichts Irdisches konnte ihn mehr beunruhigen. Manche Menschen gehen dem Morgenrot entgegen. Er ging dem Abendrot entgegen.
    An einer Flussbiegung tat sich

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