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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Yichi als Erster in den Fahrstuhl und zog Mo Yan mit hinein. Der versuchte, den Bescheidenen zu spielen, und sträubte sich ein wenig. Als Nächster stieg Li Yidou ein und zum Schluss die Frau mit der Brille. Die Tür schloss sich hinter ihnen, und der Fahrstuhl fuhr zum dritten Stock hinauf. In der metallverkleideten Wand spiegelte sich ein hässliches, erschöpftes Gesicht. Mo Yan konnte kaum glauben, wie abstoßend er aussah. Er war in wenigen Jahren um vieles älter geworden. Im Spiegel sah ihn die junge Frau mit der Brille aus verschlafenen Augen an. Er wandte sich schnell ab und starrte mit leerem Blick auf die Zahlen der Etagenanzeige. Mo Yan versank in Gedanken … Der erschöpfte Ermittler stand seinem romantischen Widersacher Yu Yichi im engen Raum einer Fahrstuhlkabine von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Wenn Feinde aufeinander treffen, glüht in ihren Augen das Feuer der Eifersucht … Ich dagegen konzentriere mich auf das Stückchen weiße Haut, das unter dem Kragen der jungen Frau mit der Brille hervorsieht, und der Gedanke daran, was unter ihrer Bluse liegt, ruft Phantasien wach, die über den Himmel rasen wie der Hengst der Götter und mein Gehirn mit Erinnerungen an lang Vergangenes überfluten. Als ich vierzehn war, habe ich zum ersten Mal den Busen eines Mädchens berührt. Sie hat gekichert und gesagt: Du weißt also schon, wie man nach Titten grapscht? Und das in deinem Alter! Willst du sie sehen? Ich habe ja gesagt. Also gut, hat sie gesagt. Ich bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. Und als das Mädchen ihre Bluse aufknöpfte, öffnete sich mit einem Donnerschlag das große purpurfarbene Tor zur Pubertät vor mir. Ohne zu zögern, bin ich durch das Tor geeilt und habe meine Jugend, die Zeit, da ich mit den Tieren um die Wette lief und mit den Vögeln sang, ein für alle Mal hinter mir gelassen … Der Fahrstuhl kam geräuschlos zum Stillstand, und die Tür öffnete sich. Die junge Frau mit der Brille ging voran, öffnete die Tür zu Zimmer 310 und ließ dem Gast den Vortritt. Mo Yan hatte noch nie so vornehm gewohnt, aber das hinderte ihn nicht daran, großspurig in die Luxussuite zu marschieren und sich auf dem Sofa niederzulassen.
    «Das ist unser bestes Zimmer. Ich hoffe, es genügt Ihren Ansprüchen», sagte Yu Yichi.
    «Ist schon in Ordnung», sagte Mo Yan. «Als ehemaliger Soldat kann ich es fast überall aushalten.»
    «Die Herren von der Behörde wollten Sie im Gästehaus des örtlichen Parteikomitees unterbringen», sagte Li Yidou. «Aber da sind alle besseren Zimmer für ausländische Gäste und unsere Landsleute aus Hongkong, Macau und Taiwan reserviert, die zum Ersten Jährlichen Affenschnaps-Festival kommen.»
    «So ist es ohnehin besser», beruhigte ihn Mo Yan. «Normalerweise versuche ich, so wenig wie möglich mit Beamten und Kadern zu tun zu haben.»
    Li Yidou glaubte, sich einmischen zu sollen. «Mo Yan scheut das Rampenlicht», sagte er. «Er zieht Ruhe und Frieden vor.»
    Mit wissendem Lächeln sagte Yu Yichi: «Kann der Mann, der Das rote Kornfeld geschrieben hat, wirklich das Rampenlicht meiden und sich für Ruhe und Frieden entscheiden? Du arbeitest erst seit zwei Tagen in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, und schon bist du zum perfekten Arschkriecher geworden.»
    Peinlich berührt versuchte Li Yidou zu begütigen: «Nehmen Sie die Aussprüche Generaldirektor Yus nicht zu ernst, Meister Mo. Er ist in ganz Jiuguo für seine spitze Zunge berühmt.»
    «Keine Angst», antwortete Mo Yan. «Ich kann auch ganz schön scharf werden.»
    «Ich habe vergessen, Ihnen zu erzählen, dass ich an die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Parteikomitee versetzt worden bin», sagte Li Yidou. «Ich bin für die Vorbereitung öffentlicher Verlautbarungen zuständig.»
    «Und was ist mit deiner Dissertation?», fragte Mo Yan. «Bist du fertig damit?»
    «Die kann warten. Diese Art Arbeit liegt mir mehr. In offiziellen Verlautbarungen steckt mehr kreatives Potenzial.»
    «Klingt gut», sagte Mo Yan.
    «Lassen Sie die Badewanne für unseren Gast ein, Fräulein Ma», sagte Yu Yichi. «Er sollte seinen verschwitzten, müffelnden Körper reinigen.»
    Die junge Dame mit der Brille bestätigte die Aufforderung mit einem knappen Kopfnicken und ging ins Badezimmer, in dem man bald das Wasser laufen hörte.
    Yu Yichi öffnete die Tür der Minibar, in der Dutzende von Flaschen aufgereiht waren. «Was darf es sein?», fragte er Mo Yan.
    «Danke, nicht für mich», antwortete Mo Yan.

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