Die Schnapsstadt
Vergnügen, frage ich mich, kann dieser Mensch an den wirren Gedanken finden, die sich in seinem Kopf drängen?
«Jiuguo, nächster Halt Jiuguo», ruft die hagere kleine Schaffnerin aus und schlägt auf die Billetttasche, während sie schwankend den Gang entlanggeht. «Nächster Halt Jiuguo. Holen Sie bitte Ihre Reisedokumente ab.»
Schnell verschmelzen Mo Yan und ich miteinander. Er richtet sich von seinem Liegeplatz auf, und das heißt, dass ich es auch tue. Mein Bauch fühlt sich aufgebläht an, und mein Hals ist steif. Ich ringe nach Atem, und der Geschmack in meinem Mund ist ekelhaft. Dieser Mo Yan ist eine schmutzige Kreatur, die ich nur mühsam schlucken kann. Ich sehe zu, wie er eine Metallmarke aus der grauen Jacke zieht, die er seit Jahren trägt, und sich seine Fahrkarte zurückgeben lässt. Dann steigt er ungeschickt aus seinem mittleren Liegewagenplatz und sucht mit stinkenden Füßen, die Einsiedlerkrebsen auf der Suche nach einem neuen Panzer ähneln, nach seinen stinkenden Schuhen. Er hustet zweimal, dann wickelt er seinen schmutzigen Trinkbecher in den schmutzigen Lappen, mit dem er sich Füße und Gesicht wäscht, stopft ihn in eine schmutzig graue Reisetasche und bleibt ein paar Minuten sitzen. Wie gebannt starrt er auf das Haar der Handelsreisenden für pharmazeutische Produkte, die auf der unteren Liege gegenüber schnarcht. Schließlich steht er auf und geht taumelnd zur Tür.
Ich steige aus, und als Erstes fällt mir der Gegensatz zwischen den hellen Regentropfen und dem trüben gelben Lampenlicht auf, in dem sie tanzen. Der Bahnsteig ist verlassen bis auf zwei Männer in blauen Mänteln, die sich die Beine vertreten. In den Wagentüren sitzen schweigende Schaffnerinnen, die irgendwie die lange Nacht überstanden haben, wie Hühner im Hühnerhaus. Der Zug steht still und einsam zwischen den Bahnsteigen. Das Gurgeln hinter dem Zug verrät, dass die Wassertanks aufgefüllt werden. Vorne leuchtet der Lokomotivscheinwerfer. Ein Mann in Uniform schlägt pflichtbewusst wie ein Buntspecht mit einem Hämmerchen gegen die Räder. Die Wagen sind patschnass und stöhnen. Die Gleise, die im hellen Scheinwerferlicht nach fernen Bahnhöfen suchen, sind ebenfalls patschnass. Anscheinend regnet es schon seit einiger Zeit, auch wenn mir das im Zug nicht aufgefallen ist. Als ich Peking verließ, fuhr mein Bus über den Platz des Himmlischen Friedens. Strahlender Sonnenschein ließ die goldenen Chrysanthemen und die roten Fahnen leuchten. Sun Yatsen, der auf dem Platz steht, und Mao Zedong, der am Eingang zur Verbotenen Stadt hängt, tauschten über die Flagge mit den fünf Sternen an ihrem nagelneuen Mast hinweg geheime Botschaften aus. In der Zeitung habe ich gelesen, dass der Fahnenmast mehr als vierzig Meter hoch ist. Er sieht zwar nicht so hoch aus, aber es muss wahr sein, denn wo es um ein nationales Heiligtum geht, würde es niemand wagen, Sparmaßnahmen zu ergreifen. Ich habe mich seit zehn Jahren, in die Haut des Schriftstellers Mo Yan gehüllt, in Peking herumgetrieben. Ich kenne die Stadt. Geologisch ist sie in Ordnung; es gibt keine verborgenen Erdspalten unter ihr. Jetzt bin ich hier in Jiuguo, und es regnet. Wenn man sich von einem Ort an einen anderen begibt, kann man sich nun einmal nicht auf das Wetter verlassen. Ich hatte nicht geahnt, dass der Bahnhof von Jiuguo so friedlich sein würde. Unter dem leichten Regen, im hellen, warmen, goldenen Lampenlicht liegt er in der kühlen, erfrischenden, sauberen Nachtluft mit seinen glänzenden Gleisen und dem dunklen Fußgängertunnel unglaublich friedlich da. Der kleine Bahnhof würde in einen Kriminalroman passen, und das gefällt mir … Als Ding Gou'er durch den Tunnel unter den Gleisen hindurchging, hing ihm noch der appetitliche Duft des gedünsteten kleinen Jungen in der Nase. Dunkelrotes glänzendes Fett lief dem kleinen Kerl mit dem goldenen Körper über die Wangen, und um seinen Mund spielte ein geheimnisvolles, undurchdringliches Lächeln … Ich sehe zu, wie die Lokomotive angeheizt wird und der Zug tuckernd den Bahnhof verlässt. Erst als das rote Schlusslicht hinter der Kurve verschwindet, erst als das Grollen der Räder nur noch aus weiter Ferne zu hören ist, hebe ich meine Reisetasche auf und mache mich auf den Weg über den unebenen Boden des Fußgängertunnels, den ein paar Sparlampen in düsteres Licht tauchen. Meine Reisetasche läuft auf Rollen. Ich stelle sie auf den Boden und ziehe sie hinter mir her. Das Geräusch der Rollen
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