Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
auf dem Boden macht mich nervös. Also hebe ich die Tasche hoch und trage sie auf der Schulter. Im Tunnel verdoppelt der Widerhall das Geräusch meiner Schritte, und ich fühle mich innerlich leer … Ding Gou'ers Abenteuer in der Schnapsstadt Jiuguo müssen irgendetwas mit diesem Fußgängertunnel zu tun haben. Irgendwo hier müsste ein verborgener Marktplatz liegen, auf dem Fleischkinder verkauft und gekauft werden. Eine Hand voll Betrunkene, Nutten, Bettler und halb verwilderte Hunde müssten sich hier herumtreiben. Hier müsste er auf eine wichtige Spur stoßen … Prägnante Hintergrundsbeschreibungen spielen für den literarischen Erfolg eine wichtige Rolle, und jeder erstklassige Schriftsteller weiß, dass er den Ort der Handlung häufig wechseln muss, da dies nicht nur die Schwächen des Textes verbirgt, sondern auch das Interesse des Lesers erhöht. In seine Gedanken versunken, geht Mo Yan um eine Ecke und entdeckt einen alten Mann, der mit einer zerrissenen Decke über der Schulter auf der Straße liegt. Neben ihm liegt eine grüne Schnapsflasche. Ich finde es beruhigend, dass in Jiuguo sogar Bettler an Alkohol gelangen können. Wenn man an all die Erzählungen denkt, die der Doktorand der Alkoholkunde Li Yidou geschrieben hat und die alle mit Schnaps zu tun haben, fragt man sich, warum er keine Geschichte über Bettler geschrieben hat. Ein Bettler, der Alkoholiker ist, braucht weder Geld noch Essen. Alles, was er braucht, ist Alkohol, und wenn er einmal betrunken ist, kann er singen und tanzen und unbeschwert und frei wie ein Unsterblicher leben. Ich bin neugierig, was dieser Li Yidou für ein Typ ist. Ich muss zugeben, dass die Erzählungen, die er mir geschickt hat, meinen Roman beeinflusst haben. Ursprünglich war der Sonderermittler Ding Gou'er als ein Agent mit geradezu übermenschlichen Fähigkeiten geplant, ein brillanter Kriminalist und ein außerordentlicher Kämpfer. Stattdessen ist er zu einem Taugenichts von einem Trunkenbold geworden. Ich komme mit der Geschichte Ding Gou'ers nicht voran. Deshalb bin ich in Jiuguo: auf der Suche nach Inspiration. Ich brauche ein besseres Ende für meinen Sonderermittler als den Tod durch Ertrinken in einer offenen Latrine.
    Mo Yan entdeckte den Doktoranden der Alkoholkunde und hoffnungsvollen Jungautor Li Yidou, als er sich dem Ausgang näherte. Er wusste instinktiv, dass er es sein musste, als er einen hoch gewachsenen hageren Mann mit einem dreieckigen Gesicht erblickte, und ging geradewegs auf den Mann mit den bedrohlich wirkenden Augen zu.
    Der Mann streckte eine lange knochige Hand über das Geländer und sagte: «Mo Yan, wenn ich nicht irre.»
    Mo Yan ergriff die eiskalte Hand und sagte: «Es tut mir Leid, dir so viel Mühe gemacht zu haben, Li Yidou.»
    Die Kontrolleurin wollte Mo Yans Fahrkarte sehen.
    «Was willst du sehen?», brüllte Li Yidou sie an. «Weißt du, wer das ist? Das ist mein verehrter Meister Mo Yan, der Mann, der das Drehbuch zu Das rote Kornfeld geschrieben hat. Er ist Ehrengast des örtlichen Parteikomitees und der Stadtverwaltung.»
    Verblüfft starrte sie Mo Yan einen Augenblick stumm an. Dem war das Ganze peinlich. Schnell zog er seine Fahrkarte heraus, aber Li Yidou zerrte ihn an der Absperrung vorbei und sagte: «Kümmern Sie sich nicht um sie.»
    Li Yidou nahm Mo Yan die Reisetasche ab und warf sie sich über die Schulter. Er war mindestens einen Meter achtzig groß, einen Kopf größer als Mo Yan, der zu seinem Trost feststellte, dass Li Yidou dafür wenigstens fünfzig Pfund leichter war.
    Fröhlich sagte Li Yidou: «Meister Mo, sobald ich Ihren Brief bekommen habe, habe ich dem Sekretär des örtlichen Parteikomitees, dem Genossen Hu, die frohe Botschaft mitgeteilt, und er hat mich aufgefordert, Ihnen seine herzlichen Willkommensgrüße auszurichten. Ich war gestern Abend schon einmal mit einem Auto da.»
    «Aber ich habe doch ausdrücklich geschrieben, dass ich am Neunundzwanzigsten morgens ankomme.»
    «Ich hatte Angst, der Zug könnte zu früh kommen», erwiderte Li Yidou, «und Sie wären dann ganz allein in einer fremden Stadt. Lieber bin ich einmal öfter zum Bahnhof gefahren, damit Sie nicht auf mich warten müssen.»
    «Ich habe dir wirklich viel Mühe gemacht», sagte Mo Yan lächelnd.
    «Zuerst wollte die Stadtverwaltung ja den Stellvertretenden Abteilungsleiter Jin Gangzuan zu Ihrem Empfang abordnen, aber ich habe gesagt: ‹Mo Yan und ich sind gute Freunde, zwischen uns gibt es keine Heimlichkeiten, und deshalb

Weitere Kostenlose Bücher