Die Schnapsstadt
«Es ist noch früh am Morgen. Vielleicht später.»
«Was heißt hier später?», fragte Yu Yichi. «Die erste Pflicht eines Besuchers, der nach Jiuguo kommt, ist es, etwas zu trinken.»
«Ich hätte lieber eine Tasse Tee.»
«In Jiuguo gibt es keinen Tee», sagte der Zwerg. «Unser Tee heißt Schnaps.»
«Andere Länder, andere Sitten, Meister Mo», sagte Li Yidou.
«Also gut.»
«Kommen Sie her und suchen Sie sich etwas aus», sagte Yu Yichi.
Vor der Auswahl an Flaschen mit den edelsten nur vorstellbaren Getränken wurde es Mo Yan schwindlig.
«Es heißt, Sie seien ein durchtrainierter Säufer der Spitzenklasse», bemerkte Yu Yichi. «Ist das wahr?»
«In Wirklichkeit», sagte Mo Yan, «vertrage ich nicht sehr viel und verstehe auch nur wenig vom Trinken.»
«Keine falsche Bescheidenheit!», rief Yu Yichi aus. «Außerdem habe ich alle Ihre Briefe an Li Yidou gelesen.»
Mo Yan warf Li Yidou einen betrübten Blick zu. Der verteidigte sich: «Generaldirektor Yu ist einer von uns. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.»
Yu Yichi nahm eine Flasche Tausend Grüne Ameisen aus dem Schrank und sagte: «Nach einer Nacht im Zug sollten Sie besser etwas Milderes probieren.»
«Tausend Grüne Ameisen ist eine vorzügliche Wahl», sagte Li Yidou schmeichelnd. «Eine der Schöpfungen meines Schwiegervaters. Tausend Grüne Ameisen wird aus Kaffernhirse und Mungobohnen destilliert. Dann kommen noch mehr als ein Dutzend aromatische Heilkräuter dazu. Tausend Grüne Ameisen trinken ist, als höre man einer Schönheit des Altertums beim Zitherspiel zu: eine magische Erinnerung an die ferne Vergangenheit.»
«Halt die Schnauze!», fuhr ihn Yu Yichi an. «Du und deine Werbesprüche! »
Li Yidou verteidigte sich: «Da können Sie sehen, warum man mich an die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit versetzt hat. Power-Werbung ist das, was wir für unser Affenschnaps-Festival brauchen, und schließlich bin ich Doktor der Alkoholkunde.»
«Doktorand», sagte Yu Yichi spöttisch.
Yu Yichi nahm drei Bleikristallgläser aus der Minibar und füllte sie bis zum Rand mit einer beunruhigend grünen Flüssigkeit.
Vor seiner Reise in die Schnapsstadt Jiuguo hatte Mo Yan sich in Alkoholfragen sachkundig gemacht und wusste einiges darüber, wie man Schnaps verkostet. Er hob sein Glas, berührte es mit der Nasenspitze und roch daran. Dann wedelte er sich mit einer Hand den Duft, der aus dem Glas aufstieg, unter die Nasenflügel. Danach hielt er das Glas direkt unter die Nase und atmete tief ein, hielt den Atem an, schloss die Augen und machte ein Gesicht, als sei er in tiefes Sinnen versunken. Nach einer Weile öffnete er die Augen und sagte: «Nicht schlecht, Herr Specht. Der Duft und der Geschmack des klassischen Altertums: vornehm und feierlich. In der Tat, nicht schlecht.»
«Donnerwetter!», sagte Yu Yichi. «Sie verstehen ja wirklich etwas davon.»
Li Yidou stimmte zu: «Meister Mo ist der geborene Connaisseur.»
Mo Yan lächelte selbstzufrieden.
In diesem Augenblick kam das Mädchen mit der Brille wieder. «Herr Generaldirektor, das Bad ist bereit», meldete sie.
«Prost», sagte Yu Yichi und stieß mit Mo Yan an. «Nehmen Sie ein Bad und ruhen Sie sich aus. Sie können noch ein paar Stunden schlafen. Vor sieben Uhr gibt es kein Frühstück. Ich schicke eins der Mädchen rauf und lasse Sie wecken.»
Er leerte sein Glas und klopfte Li Yidou aufs Knie. «Wir gehen, Herr Doktor! »
«Sie können beide hier schlafen», sagte Mo Yan. «Wir kriegen leicht drei Mann in ein Bett.»
Yu Yichi zwinkerte ihm zu und sagte: «Männer können sich bei uns kein Zimmer teilen. Das verstößt gegen die Regeln des Hauses.»
Li Yidou wollte auch etwas zum Thema sagen, aber Yu Yichi stieß ihn an. «Wir gehen, habe ich gesagt.»
Jetzt konnte ich endlich meinen Panzer namens Mo Yan abstreifen. Ich gähnte, spuckte in den Spucknapf und zog Schuhe und Strümpfe aus. Leise klopfte jemand an die Tür. Schnell zog ich die Hosen hoch, die mir übers Knie herunterhingen, und steckte mein Hemd in den Hosenbund, bevor ich öffnete. Fräulein Ma mit der Brille schlüpfte hurtig an mir vorbei.
«Generaldirektor Yu hat mich geschickt. Ich soll ein paar Tropfen Tausend Grüne Ameisen in Ihr Badewasser schütten», antwortete Fräulein Ma.
«Schnaps im Badewasser?», fragte Mo Yan erstaunt.
«Das ist eine Idee von Generaldirektor Yu», erklärte Fräulein Ma. «Er behauptet, ein Alkoholbad wirke sich positiv auf die Gesundheit aus. Alkohol tötet
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