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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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den Göttern sprechen, können Farben erschaffen wie diese. Du siehst, was wir nicht sehen, du hörst, was wir nicht hören, du riechst, was wir nicht riechen. Welch ein Kummer überkommt uns! Die Rede, die dem Instrument deines Mundes entspringt, gleicht einer Melodie, einem flach dahinströmenden Fluss mit seinen reichen Biegungen, dem seidenen Faden, der aus dem Hinterteil einer Spinne quillt und leicht und hell durch die Lüfte flattert. Ein Spinnennetz so groß wie ein Hühnerei und genauso nahrhaft und gesund. Die Musik berauscht uns, der Fluss trägt uns mit sich, wir tanzen auf den seidenen Spinnweben, wir sehen Gott von Angesicht zu Angesicht. Aber bevor wir ihn erblicken, sehen wir unsere eigenen Körper, die den Fluss hinabtreiben …
    Warum war der Ruf der Eule in dieser Nacht so zart wie das Gespräch der Liebenden auf dem Kopfkissen? Weil Alkohol in der Luft lag. Warum sammelten sich zahme und wilde Gänse zur falschen Jahreszeit in der eiskalten Nacht? Noch einmal: weil Alkohol in der Luft lag. Meine Nasenflügel zuckten. Mit gedämpfter Stimme flüsterte Fang Neun:
    «Was ist mit deiner Nase? Musst du niesen?»
    «Schnaps», sagte ich, «ich rieche Schnaps.»
    Die anderen rümpften schnüffelnd ihre Nasen. Siebter Onkel zog die Nase zu einem Haufen Falten zusammen.
    «Ich rieche keinen Schnaps? Wo soll da Schnaps sein?»
    Meine Gedanken überschlugen sich.
    «Riecht es doch! Riecht es doch!»
    Ihre Augen durchforschten das Zimmer, durchsuchten jede Ecke. Siebter Onkel hob die Riedmatte auf, die das Bett bedeckte. Siebte Tante wurde zornig.
    «Was suchst du da? Glaubst du, in unserem Bett gäbe es Schnaps? Das verwundert mich!»
    Siebte Tante war, wie schon gesagt, eine Intellektuelle und benutzte Ausdrücke wie «das verwundert mich». Als sie als junge Braut ins Haus kam, kritisierte sie meine Mutter, weil sie den Reis so gründlich wusch, dass sie alle «Vitamine» wegschrubbte. Schon bei dem Wort «Vitamine» erstarb meine Mutter in Ehrfurcht.
    Im Branntweindunst findet man Eiweißstoffe, ätherische Öle und Karbolsäure sowie Kalzium, Phosphor, Magnesium, Natrium, Kalium, Chlor, Schwefel, Eisen, Kupfer, Mangan, Zink, Jod und Kobalt und darüber hinaus noch die Vitamine A, B, C, D, E, H und einige andere Komponenten. Aber wem erzähle ich das? Warum zähle ich die Bestandteile von Hirsebrand vor euch auf, Bestandteile, die euer Lehrer, Professor Yuan Shuangyu, besser kennt als irgendjemand sonst?
    Der Deltamuskel im Nacken meines Schwiegervaters lief bei Abteilungsleiter Jin Gangzuans Eloge rot an. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber ich konnte mir vorstellen, wie aufgeregt er war.
    Im Schnapsdunst liegt etwas alles Durchdringendes, das den Bereich des Materiellen übersteigt, etwas, das ein Geist ist, ein Glaube, eine heilige Überzeugung, etwas, das man fühlen, aber nicht nennen kann – die Sprache ist so plump, ihre Metaphern sind so schwach –, etwas, das in mein Herz einsickert und mich erschauern lässt. Genossen! Kommilitonen! Müssen wir wirklich noch darüber reden, ob Alkohol ein schädliches Insekt ist oder ein nützliches? Sicher nicht! Alkohol ist eine Schwalbe, eine rotäugige Wespe, ein Marienkäfer mit sieben Punkten, ein natürliches Insektenvertilgungsmittel.
    Sein Geist erhob sich zu neuen Höhen. Im Überschwang des Augenblicks schwangen seine Arme durch den Raum. Die Stimmung im Hörsaal kochte über. Er stand da, sah aus wie Hitler und erzählte weiter:
    «Sieh doch, Siebter Onkel! Der Schnapsgeruch weht zum Fenster herein, er dringt aus der Decke, er kriecht durch jedes Loch und jede Spalte …»
    «Der Junge ist übergeschnappt», sagte Fang Neun und schnüffelte in der Luft. «Haben Gerüche eine Farbe? Kann man sie sehen? Das ist doch verrückt …»
    In ihren Augen stand der Zweifel. Sie sahen mich an, wie man ein Kind ansieht, das im Begriff steht verrückt zu werden. Aber zum Teufel mit ihnen! Fliegenden Fußes überquerte ich eine Brücke von Farben, die mit dem Geruch von Alkohol gepflastert war, fliegenden Fußes … und es ereignete sich ein Wunder. Liebe Kommilitonen! Ein Wunder hat sich ereignet.
    Das Übergewicht seiner Gefühle ließ seinen Kopf auf die Brust sinken. Dann rezitierte er hinter dem Katheder im Hörsaal der Fakultät für Allgemeinbildung der Brauereihochschule stehend mit heiserer und außerordentlich mitreißender Stimme:
    Vor meinem inneren Auge stand das Bild eines luxuriösen Festmahls in einer Nacht voll Schneegestöber. Eine helle

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