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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Vorlesung beendet.

ZWEITES KAPITEL
     
I
     
    Der Bergwerksdirektor und der Parteisekretär hatten sich vor ihm aufgebaut. Mit vor die Brust gelegten linken Armen, ausgestreckten rechten Armen und offenen Handflächen standen sie ihm wie ein Paar Verkehrspolizisten im Einsatz gegenüber. Ihre Gesichter sahen einander so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Der Bergwerksdirektor hätte den Parteisekretär als Spiegel benutzen können und umgekehrt. Zwischen den beiden erstreckte sich ein vielleicht ein Meter breiter Pfad, der mit einem roten Teppich ausgelegt war und einen hell beleuchteten Gang kreuzte. Angesichts dieser aufrichtigen Beweise von Höflichkeit und Respekt schmolz Ding Gou'ers heroische Entschlossenheit dahin. Leicht vornübergebeugt stand er vor den beiden Funktionären und wusste nicht, ob er weitergehen sollte. Ihre freundlichen Mienen stiegen ihm wie ranziges Fett in die Nase, und der Geruch wurde von Minute zu Minute stärker. Durch Zögern konnte Ding Gou'er ihn weder mildern noch zum Erliegen bringen. Die Götter sprechen nicht – wie wahr! Zwar sprachen die beiden nicht, aber ihre Körpersprache war verführerischer und überwältigender als die süßesten honigtriefenden Worte, die je gesprochen wurden. Nichts und niemand konnte ihr widerstehen. Teils weil er sich dazu verpflichtet fühlte, teils weil er ihnen dankbar war, schritt er zwischen den beiden hindurch, und der Bergwerksdirektor und der Parteisekretär reihten sich so hinter ihm ein, dass die drei Männer die Eckpunkte eines gleichschenkligen Dreiecks bildeten. Der Gang schien kein Ende zu nehmen. Das verwirrte Ding Gou'er, der sich deutlich an den Grundriss des Gebäudes erinnern konnte. Innerhalb der Fläche, die von den Sonnenblumen begrenzt wurde, konnten höchstens ein Dutzend Zimmer liegen. Für einen so langen Gang blieb einfach kein Platz. Alle drei Schritte hingen rote Laternen in Form einer Fackel an den gegenüberliegenden Wänden, die mit einer milchig weißen Tapete bedeckt waren. Die Messinghände, die die Fackeln hielten, waren glänzend poliert und wirkten erstaunlich lebensecht, als streckten sich wirkliche Hände durch die Wand. Mit wachsendem Schauder stellte er sich zwei Reihen von Messingstatuen vor, die zu beiden Seiten des Flurs ein Spalier bildeten. Der Weg über den roten Teppich glich dem Marsch durch eine Schlachtreihe bewaffneter Wächter. Ich bin gefangen. Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor sind meine Wachmannschaft. Ding Gou'er blieb das Herz stehen. Dann öffneten sich ein paar kleine Spalten in seinem Gehirn und ließen ein wenig kühle Vernunft einströmen. Er rief sich seinen Auftrag ins Gedächtnis, seine heilige Pflicht. Dass er mit einer jungen Frau herumpoussiert hatte, hatte ihn nicht an der Erfüllung seiner heiligsten Pflichten gehindert, aber der Genuss alkoholischer Getränke konnte das durchaus bewirken. Er blieb stehen, wandte sich zu seinen Begleitern um und sagte:
    «Ich bin hier, um eine Ermittlung durchzuführen, nicht, um mit Ihnen zu trinken.»
    Sein Tonfall war eher unfreundlich. Der Bergwerksdirektor und der Parteisekretär wechselten Blicke, die einander so ähnlich waren wie ihre Gesichter. Dann sagten sie, ohne auch nur eine Spur von Verärgerung zu zeigen, mit derselben Wärme und Freundlichkeit, die sie von Anfang an ausgezeichnet hatte:
    «Das wissen wir, das wissen wir. Wir wollen Sie nicht zwingen, Alkohol zu trinken.»
    Der arme Ding Gou'er konnte sich immer noch nicht merken, wer von beiden der Parteisekretär und wer der Bergwerksdirektor war. Da er aber fürchten musste, sie zu kränken, wenn er fragte, beschloss er, sich weiterhin durchzumogeln. Schließlich sahen die beiden einander so ähnlich, wie es ja auch die Posten eines Bergwerksdirektors und eines Parteisekretärs sind.
    «Nach Ihnen, bitte. Dass Sie nicht trinken, ändert nichts an der Tatsache, dass Sie essen müssen.»
    Also ging Ding Gou'er weiter. Die Dreiecksformation, der Gast an der Spitze, seine Begleiter hinter ihm, machte ihn nervös. Als ob der Flur nicht in den Speisesaal der Werkskantine, sondern in einen Audienzraum führte! Er versuchte, seine Schritte zu zügeln, sodass die beiden neben ihm gehen müssten. Keine Chance! Jedes Mal wenn er zögerte, passten sie ihren Schritt dem seinen an und hielten die Dreiecksformation aufrecht, sodass er weiterhin seine Eskorte hinter sich herzog.
    Plötzlich änderte sich die Richtung des Flurs, und der rote Teppich fing an, sich nach unten zu

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