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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Trinkschale.
    «Nein danke! Nein danke!»
    «Drei Schälchen vor dem Essen! Drei Schälchen vor dem Essen! Das ist bei uns so Sitte.» Nach dem dritten Schälchen wurde Ding Gou'er ein wenig schwummerig zumute. Er griff zu den Essstäbchen und nahm ein paar Reisnudeln. Das Rührei machte sie schlüpfrig. Entweder war es der Parteisekretär oder der Bergwerksdirektor, der – hilfsbereit wie immer – zwei dünne Fädchen mit seinen eigenen Essstäbchen einfing und Ding Gou'er half, sie in den Mund zu stecken. Mit dröhnender Stimme rief er ihm zu:
    «Schlürfen!»
    Ding Gou'er schlürfte mit aller Kraft, und die zitternden Nudeln glitten mit einem schmatzenden Geräusch in seinen Mund. Eine der Kellnerinnen kicherte hinter vorgehaltener Hand. Lacht eine Frau in fröhlicher Runde, lachen alle mit ihr zur gleichen Stunde. Die heitere Stimmung schlug die ganze Tafelrunde in ihren Bann.
    Die Trinkschalen wurden aufs Neue gefüllt. Der Parteisekretär – oder war es der Bergwerksdirektor? – hob seine Schale und sagte: «Der Besuch von Sonderermittler Ding Gou'er ist eine große Ehre für unsere bescheidene Zeche. Deshalb möchte ich im Namen aller Kader und Bergleute einen Trinkspruch ausbringen. Wer nicht mittrinkt, ist ein arroganter Feind der Arbeiterklasse. Drei Schluck auf die Kumpel mit den schwarzen Gesichtern, die uns die Kohle aus den Stollen holen!»
    Ding Gou'er sah, wie sich das blasse Gesicht des Mannes vor Erregung rot färbte. Er dachte über den bedeutungsschweren Trinkspruch nach und wusste, dass er sich der Aufforderung nicht entziehen konnte. Es war, als seien die Augen Tausender von Bergleuten mit ihren Schutzhelmen, ihren eng geschnallten Gürteln, ihren staubgeschwärzten Gesichtern und ihren weiß leuchtenden Zähnen auf ihn gerichtet. Der Anblick ließ sein Herz erschauern. Tapfer schluckte er in rascher Folge den Inhalt von drei Trinkschälchen hinunter.
    Sein Gegenüber verlor keine Zeit und brachte mit gefüllter Schnapsschale im Namen seiner Mutter einen Toast auf Gesundheit und Glück des Sonderermittlers Ding Gou'er aus. Ding Gou'er war ein pflichtbewusster Sohn, und seine weißhaarige Mutter lebte noch in seinem Heimatdorf. Wie hätte er als Sohn sich weigern können, den Trinkspruch einer dreiundachtzigjährigen Mutter zu erwidern?
    Nachdem neun Schalen Schnaps in seinen Magen geflossen waren, fühlte der Ermittler, wie sich sein Bewusstsein allmählich aus seinem Körper herausschälte. Nein: Herausschälen ist das falsche Wort. Er wusste mit vollkommener Gewissheit, dass sein Bewusstsein sich in einen Schmetterling verwandelt hatte. Noch waren die Flügel des Schmetterlings zusammengefaltet, aber bald musste er den Hals recken und sich in seiner vollen Schönheit aus der Scheitellinie seines Schädels herausarbeiten. Der Schmetterling seines Bewusstseins verließ seinen Schädel, und der leere Schädel wurde zu einem Kokon so schwerelos wie eine Feder.
    Er musste dem Drängen seiner Gastgeber folgen und ein Schälchen nach dem anderen trinken, als gelte es, ein bodenloses Loch zu füllen. Während sie tranken und tranken, rollten drei Kellnerinnen eine nicht enden wollende Folge dampfender Gerichte herein. Dem Ermittler lief das Wasser im Munde zusammen. In ihren roten Uniformen glichen sie drei lodernden Flammen, drei blitzschnell rollenden Bällen. Dunkel erinnerte er sich, eine rote Krabbe so groß wie seine Hand gegessen zu haben; fette, saftige Garnelen in rotem Öl; eine grünschalige Schildkröte in Selleriebrühe; ein goldgelbes geschmortes Huhn mit zu Schlitzen zusammengezogenen Augen, das aussah wie ein getarnter Panzer vom neuesten Typ; einen ölglänzenden roten Karpfen, dessen aufgesperrter Mund sich noch bewegte; gedämpfte Muscheln, die zu einer kleinen Pagode aufgestapelt waren; rote Rüben so frisch, als kämen sie eben aus dem Garten. Seine Geschmacksnerven schwelgten in Aromen und Düften: ölig, süß, sauer, bitter, scharf, salzig. Tausende Gedanken bestürmten seinen Geist. Als er sich in dem Speisesaal umsah, der schwer war von Essensdüften, machten seine Augen, die frei in der Luft schwebten, Farb- und Geruchsmoleküle jeder nur denkbaren Form aus, die sich in unbegrenzter Freiheit im begrenzten Raum bewegten. Die bunten Moleküle fügten sich zu einem dreidimensionalen Gebilde in Form und Größe des Speisesaals zusammen. Natürlich gab es auch Moleküle, die an der Tapete kleben blieben, an den Vorhängen kleben blieben, an den Lampen kleben blieben, an den

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