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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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warum, aber ich hatte Angst davor, sie zu treffen. Wenn sie mir freundlich gesinnt waren, war alles in Ordnung, aber wenn sie feindlich waren, hatten sie mich erwischt. Die Männer stellten sich auf beiden Straßenseiten auf und bildeten ein Spalier, durch das mich die rot uniformierten Mädchen trugen. Der Geruch von Schweiß und feuchter Stollenluft stieg mir in die Nase. Die Augen der Männer durchdrangen meinen Körper wie Pressluftbohrer. Ein paar von ihnen machten schmutzige Bemerkungen, als ich vorbeigetragen wurde, aber die rot uniformierten Mädchen hielten den Kopf hoch, streckten stolz die Brüste vor und kümmerten sich nicht um die Männer. Da erst kapierte ich, dass die schmutzigen Bemerkungen den Mädchen galten und nicht mir.
    Sie schleppten mich in ein abgelegenes kleines Gebäude. Drinnen saßen zwei Frauen in weißen Uniformen an einem Schreibtisch einander gegenüber. Ihre Knie berührten sich. In den Schreibtisch waren ein paar Schriftzeichen eingekratzt. Als wir die Baracke betraten, bewegten die Frauen ihre Knie ein wenig voneinander fort. Eine der beiden betätigte einen Schalter in der Wand, und langsam öffnete sich eine Tür: offenbar ein Fahrstuhl. Sie trugen mich hinein und schlossen die Tür, und ich sah, dass ich Recht gehabt hatte. Der Fahrstuhl fuhr in die Tiefe wie eine Sternschnuppe, und mein Körper folgte ihm wie ein Drachen an der Schnur. Wir fielen tiefer und tiefer. Ein Kohlebergwerk, dachte ich voll Bewunderung, alles, was geschieht, geschieht unterirdisch. Ich war überzeugt, dass sie die ganze Große Mauer unter der Erde hätten bauen können, wäre ihnen danach zumute gewesen. Der Fahrstuhl ruckte dreimal quietschend und knarrend. Wir waren unten angekommen. Strahlend weißes Licht blendete meine Augen. Die Mädchen trugen mich in einen luxuriös ausgestatteten Saal. Auf den wasserglatten Marmorwänden tanzten menschliche Schatten. Hunderte von niedlichen kleinen Lämpchen beleuchteten den Stuck an der Decke. Blumen und Topfpflanzen rankten sich um vier gewaltige marmorverkleidete Ecksäulen. Beim Anblick der traurigen Goldfische, die in einem supermodernen Aquarium schwammen, bekam ich eine Gänsehaut. Die Mädchen brachten meinen Körper in Zimmer 410 unter. Ich hatte keine Ahnung, was die Zahl 410 wohl bedeutete, und fragte mich, wo ich hier war. Die Wolkenkratzer von Manhattan strecken sich in den Himmel; in Jiuguo bohren sie sich hinunter in die Hölle. Die Frauen zogen mir die Schuhe aus, bevor sie mich auf ein Bett legten. Meine Aktentasche landete auf einem kleinen Tischchen. Die Frauen gingen. Fünf Minuten später öffnete ein Mädchen in cremefarbener Uniform die Tür und stellte eine Tasse Tee auf den Tisch. «Etwas Tee für Euer Ehren», hörte ich sie zu meinem Körper sagen.
    Mein Körper antwortete nicht.
    Das Mädchen in cremefarbener Uniform war kräftig geschminkt. Ihre Wimpern waren dick wie Schweinsborsten. In diesem Augenblick klingelte das Telefon neben meinem Bett. Sie griff mit schlanken Fingern nach dem Hörer. Es war ruhig im Zimmer, und ich konnte die Männerstimme am anderen Ende der Leitung hören.
    «Ist er wach?»
    «Er rührt sich nicht. Es ist unheimlich.»
    «Wie steht es um sein Herz?»
    Mit sichtbarem Widerwillen legte sie die Handfläche auf meine Brust.
    «Es schlägt», sagte sie.
    «Gib ihm das Ernüchterungsmittel.»
    Das cremefarbene Mädchen verließ das Zimmer. Ich wusste, sie würde gleich wiederkommen. Als sie zurückkam, trug sie eine Metallspritze in der Hand, wie sie die Tierärzte benutzen. Die Spitze bestand aus Weichplastik Also wusste ich, dass ich keine Injektion zu befürchten hatte. Sie schob mir die Düse zwischen die Lippen und presste ein flüssiges Medikament durch die Spritze.
    Bald hörte ich die Geräusche meines Körpers, der wieder zu sich kam, und sah, wie sich seine Arme bewegten. Er sagte etwas. Er strahlte eine mächtige Kraft aus, die mich einzufangen versuchte. Ich kämpfte dagegen an. Ich verwandelte mich in eine Art Saugnapf an der Decke. Ich wollte nicht heruntergezogen werden. Aber ich spürte, dass ein Teil von mir der Kraft bereits erlegen war.
    Mühsam richtete Ding Gou'er sich auf und öffnete die Augen. Er starrte lange Zeit mit trübem Blick die Wand an. Er griff nach der Teetasse und leerte sie durstig, bevor er wieder aufs Bett fiel.
    Einige Zeit später öffnete sich die Tür leise, und ein Knabe mit nacktem Oberkörper, der nur eine kurze blaue Hose trug, betrat barfuß das Zimmer. Er war

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