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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, und seine Haut war schuppig. Leichtfüßig und geräuschlos wie eine schwarze Katze ging er auf mich zu. Ich blickte ihm neugierig entgegen. Er kam mir bekannt vor. Irgendwo hatte ich diesen Jungen schon einmal gesehen. Er hielt ein Messer mit Schmetterlingsklinge zwischen den Zähnen. Es sah aus wie ein kleiner Fisch im Maul einer schwarzen Katze.
    Ich hatte Angst. Das könnt ihr mir glauben. Richtige, tödliche Angst. Dennoch fragte ich mich, wie ein Dämon wie er seinen Weg an diesen verborgenen unterirdischen Ort gefunden hatte. Die Tür schloss sich. Die Stille hämmerte in meinen Ohren. Der schuppige Knabe kam näher heran, und ich roch den Fischgeruch eines schuppigen Ameisenbären, der gerade unter einem Stein hervorgekrochen ist. Was hatte er vor? Sein verfilztes Haar roch nach kleinen Schlangen, die in meine Nasenflügel krochen und sich auf den Weg zu meinem Gehirn machten. Mein Körper nieste, und der kleine Dämon fiel auf den Teppichboden. Er rappelte sich auf, und seine Klauen berührten meinen Hals. Von dem Messer in seinem Mund ging ein kalter blauer Glanz aus. Wie gerne hätte ich meinen Körper vor ihm gewarnt! Aber ich konnte es nicht. Ich überlegte verzweifelt, wann und wo ich dem kleinen Dämon etwas angetan haben könnte. Wieder streckte er eine Hand aus. Diesmal kniff er mich in den Bereich, den man den Hals nennt, wie ein Bauer, der ein Huhn schlachten will. Ich konnte seine schrecklichen, harten Klauen fühlen. Aber mein Körper lag immer noch hilflos schnarchend da und ahnte nicht, wie nah ihm der Todesengel war. Ich fing an, mir zu wünschen, er möge das Messer aus dem Mund nehmen und es in den Hals meines Körpers stoßen, damit mein Leiden da oben an der Decke ein Ende nahm. Aber er tat es nicht. Jetzt war er es müde, meinen Körper in den Hals zu kneifen, und seine Klauen fuhren über meine Kleider und durchsuchten meine Taschen. Er zog einen goldenen Füllfederhalter der Marke Held des Volkes heraus, schraubte die Kappe ab und malte sich ein paar Striche auf den Handrücken. Auch der war schuppig. Er zog die Hand wieder zurück und öffnete die Lippen zu einem Grinsen oder zu einer schmerzlichen Grimasse. Wahrscheinlich kitzelte die Feder auf seiner Haut, und das Gefühl machte ihm Freude oder erinnerte ihn an etwas Angenehmes. Immer wieder malte er Striche auf seinen Handrücken. Immer wieder öffneten sich seine Lippen. Jedes Mal gab es ein kratzendes Geräusch, und ich wusste, dass ich meinem massiv goldenen Füller auf Wiedersehen sagen konnte. Ich hatte ihn als Belohnung für vorbildliche Leistungen bekommen. Das idiotische Spiel ging mindestens eine halbe Stunde so weiter. Schließlich legte er den Füllfederhalter auf den Boden und durchsuchte aufs Neue meine Taschen. Er zog ein Taschentuch, ein Päckchen Zigaretten, ein elektronisches Feuerzeug, meinen Personalausweis, eine bemerkenswert echt wirkende Spielzeugpistole, meine Brieftasche und ein paar Münzen heraus. Anscheinend wurde ihm beim Anblick dieses Schatzes schwindlig. Wie ein gieriger kleiner Junge arrangierte er alles auf dem Boden zwischen seinen Beinen und fing an, mit jedem Gegenstand einzeln zu spielen, als sei er allein auf der Welt. Natürlich interessierte ihn der Füller nicht mehr. Ebenso natürlich war es, dass er instinktiv nach der Spielzeugpistole griff und sie vor sich ausstreckte. Der verchromte Lauf glitzerte im Kunstlicht. Es war eine vollkommen gestaltete Imitation des echten Vorbilds, wie es die Offiziere der Volksbefreiungsarmee an der Hüfte tragen: ein schöner Gegenstand. Ich wusste, dass noch ein paar Zündkäppchen unter dem Hammer lagen, die jederzeit explodieren konnten, wenn jemand den Abzug berührte. Seine Augen funkelten vor Freude und Aufregung. Ich hatte Angst, er könne sich verraten, wenn er den Abzug durchzog. Was war der Unterschied zwischen dem Arm dieses Jungen und einer Lotoswurzel? Erlag mein Körper einer Täuschung? Aber es war zu spät. Peng! Er hatte den Abzug durchgezogen. Ich sah blauen Rauch und hörte im selben Augenblick die Explosion. Ich hielt den Atem an und wartete auf die eiligen Schritte, die jetzt vor der Tür erklingen mussten, und auf die cremefarbenen Mädchen und die Wächter, die jetzt ins Zimmer stürzen mussten. Was anderes konnte ein Pistolenschuss mitten in der Nacht bedeuten als Mord oder Selbstmord? Ich begann, mir Sorgen um meinen schuppigen Besucher zu machen. Ich wollte nicht, dass sie ihn

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