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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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erwischten. Ehrlich gesagt, der kleine Kerl faszinierte mich. Aber nicht seiner Schuppen wegen. Es gibt viele Schuppentiere: Fische, Schlangen, Ameisenbären. Ich ekle mich vor ihnen allen außer vor diesen ungeschickten, ein wenig behinderten Tieren, den Ameisenbären. Ich mag keine kalten stinkenden Fische, und träge Schlangen widern mich an. Aber meine Sorgen waren umsonst. Der Pistolenschuss hatte keine Wirkung. Niemand stürzte ins Zimmer. Nichts geschah. Mein Besucher feuerte noch eine Salve ab. Die zweite Explosion war, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nicht sehr eindrucksvoll. Zumindest in diesem schalldichten Raum mit dem dicken Teppichboden, der verstärkten Decke und den tapezierten Wänden wirkte sie alltäglich. Er blieb völlig ungerührt sitzen: keine Furcht, kein Schrecken. Entweder war er taub oder ein abgebrühter Kriegsteilnehmer, den so etwas nicht aus der Ruhe bringen konnte. Jetzt hatte er genug von der Pistole. Er warf sie weg, griff nach meiner Brieftasche und untersuchte ihren Inhalt: Geld, Lebensmittelmarken, Essensmarken für die Cafeteria und Quittungen, die ich noch nicht zur Erstattung eingereicht hatte. Er spielte mit dem Feuerzeug herum. Eine helle Flamme stieg auf. Er rauchte eine Zigarette. Er musste husten. Er warf die Zigarette auf den Boden. Mein Gott! Der Teppich fing Feuer, und der Gestank brennender Wolle lag in der Luft. In diesem Moment wusste ich: Verbrannte mein Körper und wurde zu Asche, wäre ich nur noch ein Rauchwölkchen. Sein Ende wäre auch das meine. Wach auf, mein Körper!
    Schuppiger kleiner Dämon, ich hasse dich!
    Nein, ich hasse dich nicht. Mir ist zum Lachen zumute. Aber ich kann nicht lachen. Er bemerkte das Feuer auf dem Boden und stand langsam auf. Er hob das eine Hosenbein an, griff mit zwei Fingern hinein und griff nach seinem Wasserschlauch. Der war für sein Alter ganz schön groß, aber er stand nicht. Sein Schwanz war genauso schuppig wie sein Körper. Er zielte auf den brennenden Teppich. Ein geräuschvoller Strahl erzeugte ein genauso geräuschvolles Zischen. Die Fontäne war stark genug, um zwei Feuer dieser Größe zu löschen. Der Geruch von Urin und gelöschtem Feuer entspannte mich.
    Er begann, meinem Körper die Kleider auszuziehen. Er wollte mit allen Mitteln an meine Jacke kommen. Ich hörte seinen schweren Atem. Als er es geschafft hatte, zog er die Jacke an. Der Saum hing ihm bis aufs Knie herunter. Er sammelte sein neues Spielzeug ein und steckte es in die Jackentaschen. Was hatte er jetzt vor?
    Er spuckte das Messer aus, nahm es in die Hand und sah sich im Zimmer um. Dann ritzte er vier Kreuze in die Wand, nahm das Schmetterlingsmesser wieder zwischen die Zähne, schüttelte die weiten Jackenärmel aus und verließ mit stolzem Schritt das Zimmer.
    Mein Körper fiel wieder aufs Bett und schnarchte weiter.

II
     
    Verehrter Meister Mo Yan!
     
    Bitte lassen Sie mich weiter diese Anrede benutzen. Nur so kann ich es vermeiden, mich unglücklich, unbeholfen oder gar verlegen zu fühlen.
    Verehrter Meister, Sie und nur Sie sind mein wahrer und echter Mentor. Sind Sie doch nicht nur ein Meister der Erzählkunst, sondern wissen auch mit einer Schnapsflasche umzugehen. Ihre Romane sind so kunstvoll konstruiert wie die Fußbinden einer erfahrenen Großmutter. Wo es um Schnaps geht, leisten Sie, sofern das möglich ist, noch mehr. Heutzutage ist es nicht schwer, einen guten Romancier zu finden. Und auch einen Meister in den Disziplinen der Schnapsflasche findet man leicht. Aber beides in einer Person vereint zu finden ist außergewöhnlich schwierig. Und Sie, verehrter Meister, sind diese einzigartige Person.
    Ihre Analyse der Tausend Grünen Ameisen ist exakt und zutreffend, Ausdruck wahrer Kennerschaft. Die Grundzutaten für dieses Destillat sind Kaffernhirse und Mungobohnen, die in einem alten Keller vergoren werden. Unsere Brennhefe wird mit Weizen, Kleie, Erbsen und einer Spur Spreu angesetzt. Das Destillat, das so entsteht, hat eine grünliche Farbe von gedämpfter Eleganz und ein schweres, volles, kräftiges Aroma. Beim Verschneiden haben wir alles getan, um den feurigen Charakter unseres Produkts abzumildern. Aber hierbei waren unsere Mühen bisher nur von begrenztem Erfolg gekrönt. Um den Termin für eine Getränkemesse einzuhalten, haben wir unser noch nicht ganz ausgereiftes Produkt unter dem Namen Tausend Grüne Ameisen auf den Markt geworfen. Es handelt sich, wie Sie richtig bemerkt haben, um einen Edelbrand, dessen Schwäche in

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