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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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herumballern, wie es mir gerade Spaß macht! Ich muss besser aufpassen. Jin Gangzuan griff nach einem scharfen Messer und schnitt den anderen Arm flink in zehn Stücke. Er nahm eines davon zwischen die Stäbchen und hielt es Ding Gou'er unter die Nase.
    «Fünfäugige Lotoswurzel», sagte er. «Wieso ein Arm? Seit wann haben Arme Augen?»
    Ding Gou'er sah und hörte, wie Jin Gangzuan geräuschvoll an dem Arm knabberte, und erkannte, dass es eine Lotoswurzel war. Er blickte auf das Stück, das vor ihm lag, und konnte sich nicht entscheiden, ob er davon probieren sollte oder nicht. Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor knabberten an den Beinen des Jungen. Jin Gangzuan drückte ihm das Messer in die Hand und lächelte ihm aufmunternd zu. Er griff zum Messer und berührte den Arm vorsichtig mit der Schneide. Wie von einem Magnet angezogen sank es leise gluckernd in die armförmige Lotoswurzel ein und teilte sie in zwei Stücke.
    Er spießte ein Stück Arm mit der Gabel auf, schloss die Augen und schob es in den Mund. Mein Gott, wie köstlich! Die Geschmackszellen auf seiner Zunge brachen in einstimmigen Jubel aus, seine Kinnmuskulatur geriet ins Zittern, und aus den Tiefen seiner Kehle schob sich eine Hand nach oben, um den Leckerbissen hinabzuziehen.
    «So ist's richtig», sagte Jin Gangzuan freundlich. «Jetzt suhlt sich Genosse Ding Gou'er mit uns zusammen im Schlamm. Sie haben gerade den Arm eines kleinen Jungen gegessen.»
    Ding Gou'er erstarrte. «Sie haben behauptet, es sei kein richtiger Arm», sagte er. Dennoch war sein Verdacht plötzlich wieder erwacht.
    «Aber lieber Genosse», sagte Jin Gangzuan. «Stellen Sie sich doch nicht dümmer, als Sie sind. Das war doch nur ein Scherz! Unsere Stadt Jiuguo ist eine zivilisierte Gegend, nicht das autonome Stammesgebiet einer wilden, zurückgebliebenen Volksgruppe. Wer würde es wohl übers Herz bringen, echte Kinder zu essen? Dass die Oberstaatsanwaltschaft auf so ein wirres Märchen hereingefallen ist und tatsächlich jemanden geschickt hat, um den Fall zu untersuchen, spricht Bände darüber, wie dort gearbeitet wird. Offenbar nicht mit den Methoden der Wissenschaft, sondern mit Methoden, die der überhitzten Phantasie eines Romanschriftstellers entsprungen sind, scheint es mir.»
    Die beiden leitenden Kader der Zeche Luoshan erhoben ihre Trinkschälchen.
    «Genosse Ding», sagten sie, «Sie hatten keinen Grund, Ihre Pistole abzufeuern. Zur Strafe müssen Sie drei Schälchen mit uns trinken.»
    Ding Gou'er nahm die wohlverdiente Strafe gelassen hin.
    «Genosse Ding», sagte Jin Gangzuan, «Sie neigen dazu, die Dinge schwarzweiß zu sehen. Entweder lieben Sie, oder Sie hassen. Drei Schälchen auf Sie!»
    Ding Gou'er, für den Schmeichelei ein Lebenselixier darstellte, folgte seinem Beispiel willig.
    Mit sechs Schälchen Schnaps im Magen kehrte das Schwindelgefühl von vorhin wieder. Als der Bergwerksdirektor – oder war es der Parteisekretär? – ihm die andere Hälfte des Arms anbot, warf er die Essstäbchen beiseite, griff mit beiden Händen nach dem fettigen Fleisch und schlang es gierig hinunter.
    Alle lachten, als Ding Gou'er den Arm in den Mund stopfte. Der Bergwerksdirektor und der Parteisekretär forderten die rot uniformierten Kellnerinnen auf, dem Gast zuzutrinken. Mit koketten lächelnden Mädchen brachten sie Ding Gou'er dazu, weitere einundzwanzig Schälchen auszutrinken. Als Jin Gangzuan sich verabschiedete, hing der Ermittler unter der Decke.
     
    Von da oben sah er zu, wie Jin Gangzuan ruhig den Speisesaal verließ, und hörte, wie er dem Bergwerksdirektor und dem Parteisekretär irgendwelche Aufträge erteilte. Er sah, wie zwei rot uniformierte Mädchen aufmerksam und respektvoll die schweren lederbespannten Türen öffneten. Er sah ihre Haare, die über dem Hinterkopf zusammengesteckt waren. Er sah ihre Nacken, und er sah ihre frisch erblühten Brüste. Dann aber machte er sich selbst Vorwürfe und nannte sich einen dekadenten Voyeur. Er sah, wie der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor der Anführerin der rot uniformierten Mädchen im Vorbeigehen Anweisungen gaben. Jetzt, wo alle Männer den Saal verlassen hatten, drängten sich die Kellnerinnen in ihren roten Uniformen um den Tisch und machten sich über die Reste her. Sie stopften das Essen mit beiden Händen in den Mund. Sie aßen wie die Barbaren. Nichts erinnerte mehr an das vornehme Verhalten, das sie eben noch an den Tag gelegt hatten. Er sah den Kokon seines Körpers wie ein

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