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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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wie eine Eule. Kalter Schrecken lief den anderen Kindern das Rückgrat hinab. Sie drehten sich um, um nachzusehen, was los war. Was war los? Im kalten Licht der roten Mondstrahlen saß der kleine Dämon mit gekreuzten Beinen auf dem Gipfel des künstlichen Hügels. Seine roten Kleider glichen einer Feuerkugel. Der künstliche Wasserfall am Hang fiel wie roter Samt gleichmäßig und anmutig in den Teich am Fuß des Hügels.
    Die Kinder sahen nicht mehr auf den Mond. Stattdessen hatten sie sich aneinander gekuschelt und starrten ihn verblüfft an.
    Leise raunend sagte er:
    «Kinder, spitzt die Ohren und hört zu, was euer Herr euch zu sagen hat. Das Ding da, das wie ein stolzer roter Hengst aussieht, ist weder eine Mama noch eine Tante. Es ist ein Ball, eine himmlische Kugel, die sich um uns dreht, und es heißt ganz einfach ‹Mond›!»
    Die Kinder starrten ihn verständnislos an.
    Er sprang von seinem Hügel herab. Seine weiten roten Kleider flatterten im Wind wie ein groteskes Flügelpaar.
    Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und stolzierte vor den Kindern auf und ab. Von Zeit zu Zeit wischte er sich den Mund am Ärmel ab oder spuckte auf den glatten Steinboden. Plötzlich blieb er stehen, hob einen Arm, der so dünn war wie der Unterschenkel einer Ziege, und schwenkte ihn in der Luft.
    «Kinder, hört zu», sagte er. «Ihr seid keine menschlichen Wesen. Ihr seid es noch nie gewesen, seit eurer Geburt nicht. Eure Eltern haben euch wie Schweine oder Ziegen verkauft. Und deshalb werde ich jeden verprügeln, der nach seiner Mama oder seinem Papa schreit.»
    Er schüttelte eine Hand, die einer Vogelklaue glich, und brüllte, so laut er konnte. Der Mond schien voll in sein bleiches kleines Gesicht, aus dem zwei smaragdgrüne Lichter strahlten. Zwei Kinder fingen an zu weinen.
    «Hört auf zu heulen!», schrie er sie an.
    Er griff in die kleine Schar hinein und zog die beiden weinenden Jungen heraus. Zweimal rammte er seine Faust in ihre weichen kleinen Bäuche. Sie fielen Hals über Kopf zu Boden und rollten herum wie kleine Gummibälle.
    Streng verkündete er:
    «So wird es jedem gehen, der heult.»
    Die Kinder kuschelten sich enger aneinander. Keines wagte zu weinen.
    «Wartet nur ab», sagte er. «Wenn hier einer nach Licht sucht, dann bin ich es.»
    Ohne Zögern begann er, den großen fremden Raum zu durchsuchen. Wie eine Raubkatze schlich er sich von Wand zu Wand. An der Tür angekommen, hielt er inne und blickte nach oben. Er entdeckte vier Lampenschnüre, die nebeneinander von der Decke hingen. Er griff danach, aber die Schnüre endeten gut einen Meter über der Spitze seines Mittelfingers. Er sprang ein paar Mal in die Höhe, aber selbst bei Einsatz all seiner Kräfte konnte er den Abstand kaum zur Hälfte überwinden. Also suchte er weiter und fand einen kunstvoll gearbeiteten Weidenbaum aus Gusseisen. Er zog ihn an die richtige Stelle, kletterte hinauf, griff nach den Lichtschaltern und zog kräftig daran. Knisternd und flackernd gingen alle Lichter im Raum und vor dem Fenster an: Neonröhren, Glühbirnen, Wolframlampen, weiße Lichter, blaue Lichter, rote Lichter, grüne Lichter, gelbe Lichter, Wandleuchten, Deckenleuchten, die Leuchten auf dem künstlichen Hügel, die Leuchten auf den künstlichen Bäumen. Die Lichter waren bunt und blendend hell wie Himmel und Erde in einer Märchenwelt. Die Kinder vergaßen ihr Elend und ihre Sorgen, klatschten begeistert in die Hände und stießen Freudenschreie aus.
    Der kleine Dämon verzog verächtlich die Lippen, als er das Wunderwerk betrachtete, das er geschaffen hatte. Dann ging er in eine Ecke, hob eine kupferne Rassel auf und schüttelte sie kräftig. Das erregte die Aufmerksamkeit der Kinder. Er band sich die Rassel, die wie für ihn geschaffen schien, an den Gürtel, spuckte aus und sagte:
    «Kinder, wisst ihr, wo die ganzen Lichter herkommen? Nein, das wisst ihr nicht. Ihr kommt aus abgelegenen rückständigen Dörfern, wo man Steine gegeneinander schlägt, wenn man Feuer machen will, und deshalb könnt ihr gar nicht wissen, wo das Licht herkommt. Ich werde es euch sagen: Die Quelle all dieser Lichter heißt Elektrizität.»
    Die Kinder lauschten ihm gebannt. Das rote Mondlicht war aus dem Raum verschwunden und hatte eine Reihe leuchtender Augen hinterlassen. Die beiden Jungen, die er zu Boden geschlagen hatte, standen wieder auf.
    «Ist Elektrizität gut?», fragte er.
    «Ja», antworteten die Kinder einstimmig.
    «Bin ich nun begabt oder

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