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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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wütenden Eindruck macht», sein, an die Sie sich erinnern. Die Leberflecken könnten die Folge mehrerer illegaler Abtreibungen sein. Sie hat mir einmal erzählt, sie sei der fruchtbarste Ackerboden, den man sich vorstellen kann, und werde schwanger, wenn ein Mann sie auch nur ansehe. Sie behauptet auch, die ungeborenen Föten, die sie auf ihrem Weg zurücklässt, würden jedes Mal vom Krankenhauspersonal eingesammelt und verzehrt. Wie ich gehört habe, soll der Nährwert eines Embryos im sechsten oder siebten Monat sehr hoch sein. Das klingt nicht unvernünftig. Schließlich gilt der Fötus eines Rehs allgemein als wirksames Mittel zur Potenzstärkung. Und auch der Embryo in einem Hühnerei hat einen hohen Nährwert.
    Ich lege diesem Brief mein neuestes Werk Wunderkind bei. Es ist im Stil des «dämonischen Realismus» geschrieben. Würden Sie es nach kritischer Lektüre bitte an die Redaktion der Volksliteratur weiterleiten? Ich werde nicht ruhen, bevor ich dieses «Höllentor» gesprengt habe.
     
    Ich wünsche Ihnen frohes Schaffen.
    Ihr Schüler
    Li Yidou

III
     
    Wunderkind
     
    Lieber Leser, vor nicht allzu langer Zeit habe ich extra für dich eine Geschichte mit dem Titel Fleischkind geschrieben. Ich habe mir dabei viel Mühe gegeben, das Bild eines kleinen Jungen zu zeichnen, der in ein rotes Tuch gehüllt ist. Vielleicht kannst du dich an seine ungewöhnlichen Augen erinnern: schmale Schlitze, in denen ein kalter und wissender Blick leuchtete, die typischen Augen eines Verschwörers. Und doch standen diese Augen nicht im Gesicht eines Verschwörers, sondern schmückten das Gesicht eines Knaben von nicht ganz einem Meter Größe. Ebendeshalb waren sie so unvergesslich, und ebendeshalb machten sie einen unauslöschlichen Eindruck auf einen einfachen Bauern aus dem Dorf Schnapsduft nahe der Stadt Jiuguo, einen gewissen Jin Yuanbao. Im vorgegebenen Rahmen einer Erzählung mittlerer Länge konnte ich nicht allzu gründlich auf den Hintergrund und das Vorleben dieses Kindes eingehen. Es tauchte dort auf als voll entwickelte Figur: ein nicht ganz ein Meter großer Junge mit struppigem Haar, den Augen eines Verschwörers, großen, fleischigen Ohren und einer rauen Stimme. Ein kleiner Junge, sonst nichts.
    Die Geschichte spielte in der Sondereinkaufsabteilung der Akademie für Kochkunst und begann im Morgengrauen. Lieber Leser, unsere Geschichte hat bereits begonnen. In dieser Nacht scheint der Mond, weil wir Mondschein brauchen. Ein großer roter Mond steigt langsam hinter dem künstlichen Hügel im Garten der Akademie für Kochkunst auf. Seine rötlichen Strahlen strömen wie ein rosiger Wasserfall durch die Scheiben der Doppelfenster und lassen die Gesichter der Kinder weich und zart erscheinen. Es sind kleine Jungen, und wer meine Erzählung Fleischkind gelesen hat, weiß, von wem die Rede ist. Der kleine Dämon war einer dieser Jungen und sollte bald zu ihrem Anführer – vielleicht auch ihrem Tyrannen – werden. Wir werden es erleben.
    Als die Sonne hinter dem Hügel unterging, hatten die einsamen Kinder sich ausgeweint. Ihre Gesichter waren tränennass und ihre Stimmen heiser, mit einer Ausnahme: Der kleine Dämon weinte nicht. Ihn hatte noch keiner weinen gesehen! Während die anderen Kinder sich die Seele aus dem Leib heulten, stolzierte er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen wie eine fette Gans in dem großen Zimmer mit der schönen Aussicht auf und ab. Gelegentlich trat er eines der heulenden Kinder gezielt in den Hintern. Daraufhin erklang jedes Mal erst ein spitzer Aufschrei, dann ein dumpfer Seufzer. Fußtritte sind, wie sich zeigte, ein probates Mittel gegen Heulen. Schließlich hatte er alle einunddreißig Kinder in den Hintern getreten, und es trat Ruhe ein. Nach den Klagen und Seufzern der jüngsten und kleinsten unter den Kindern blickten sie nun den lieblichen Mond an, der wie ein stolzer Hengst über den künstlichen Hügel sprang.
    Sie drängten sich ans Fenster, klammerten sich ans Fensterbrett und sahen mit starrem Blick hinaus. Die Kinder in der zweiten Reihe hielten sich an den Schultern derer fest, die vor ihnen standen.
    Ein fetter kleiner Junge mit einer Rotznase hob einen rundlichen Finger, deutete zum Himmel und flüsterte mit weinerlicher Stimme:
    «Mama Mond … Mama Mond …»
    Ein anderer Junge schnalzte mit der Zunge und sagte:
    «Tante Mond. Das ist nicht Mama Mond. Das ist Tante Mond.»
    Ein verächtliches Grinsen überzog das Gesicht des kleinen Dämons. Er kreischte

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