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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Situation war alles andere als klar. Nachdem er den Kopf unter den Wasserhahn gehalten und gut zehn Minuten lang kaltes Wasser hatte darüber laufen lassen, trank er ein Glas kalten Tee. Er atmete ein paar Mal tief durch und schloss die Augen. Langsam beruhigte sich sein Zwerchfell. Er versuchte, sein Denken von allen selbstsüchtigen Ideen und persönlichen Rücksichten zu reinigen. Dann öffnete er ruckartig die Augen, und schon waren seine Gedanken wieder so scharf und klar wie eine frisch geschliffene Sense, bereit, die Ranken und Grashalme wegzumähen, die seine Augen überwucherten und seinen Blick trübten. Genau in diesem Augenblick überschattete ein neuer Gedanke seinen Geist, als habe man ein buntes Bild auf die Leinwand seines Gehirns geworfen: Jiuguo ist die Heimat einer Bande von Menschen fressenden Ungeheuern, und alles, was auf dem Festmahl geschehen ist, war Teil eines gigantischen Betrugsversuchs.
    Er trocknete sich Gesicht und Hände ab, zog Strümpfe und Schuhe an, schloss seinen Gürtel, steckte die Pistole weg, setzte die Mütze auf, warf sich das blau karierte Hemd – das Hemd, das der schuppige Junge auf den Boden geworfen hatte und das dort seine Kotze aufgesaugt hatte – über die Schultern und ging entschlossen zur Tür hinaus. Auf der Suche nach einem Fahrstuhl oder einem Treppenhaus wanderte er durch einen langen Korridor. Eine freundliche junge Dame in cremefarbener Uniform wies ihm den Weg aus dem Labyrinth.
    Draußen herrschte wechselhaftes Wetter. Schwere Wolken zogen über den sonnigen Nachmittagshimmel. Schwere Wolkenschatten zogen über den Boden, doch auf dem gelben Laub lag goldener Sonnenschein. Ding Gou'ers Nase juckte, und er musste in rascher Folge siebenmal niesen. Er lief vornübergeneigt wie eine getrocknete Garnele. In seinen Augen standen Tränen. Er richtete sich auf und sah durch den Nebelschleier, der seine Augen umhüllte, die gewaltige schwarze Kabeltrommel oben auf der dunkelroten Förderhaspel, über die immer noch silbergraue Stahlkabel liefen. Alles war genau wie bei seiner Ankunft: Goldene Sonnenblumen bedeckten das Feld. Die Holzstapel verströmten ihren würzigen Duft und weckten die Erinnerung an den Urwald. Auf einem schmalen Gleis rollte eine kleine Seilzugbahn mit Rohkohle zwischen den hohen Abraumhalden hin und her. Die Lore hatte einen kleinen Motor, an dem ein langes gummibeschichtetes Seil befestigt war. Den Motor bediente ein kohlschwarzes Mädchen mit weißen Zähnen so glitzernd wie Perlen. Wie sie so hinten auf der Lore stand, wirkte sie stolz und majestätisch wie eine kampfbereite Kriegerin. Immer wenn der Wagen das Gleisende erreicht hatte, bediente sie die Bremse und brachte ihn zum Stillstand. Dann kippte sie die glänzende Kohle mit leisem Grollen seitwärts ab. Ein Hund, der aussah wie der alte Wolfshund aus der Pförtnerloge, sprang auf Ding Gou'er zu und bellte kurz, aber wütend, als müsse er ihn an seinen unauslöschlichen Hass erinnern.
    Der Hund rannte weg und ließ den verwirrten Ermittler einfach stehen. Wenn ich die Angelegenheit objektiv betrachte, sagte Ding Gou'er sich, muss ich wohl zugeben, dass ich ein einigermaßen hoffnungsloser Fall bin. Wo komme ich her? Ich komme aus der Provinzhauptstadt. Warum bin ich hierher gekommen? Um einen wichtigen Fall aufzuklären. Auf einem winzigen Staubflecken in den Weiten des Universums mitten in einem grenzenlosen Ozean von Menschen steht ein Ermittler namens Ding Gou'er. Sein Geist ist verwirrt, und sein Streben nach Selbstverbesserung ist stark reduziert. Seine Arbeitsmoral ist auf dem Tiefpunkt angelangt. Er fühlt sich einsam und mutlos und hat sein Ziel aus dem Auge verloren. Er ist unmotiviert und einsam. Er weiß, dass er nichts mehr zu verlieren hat.
    Er ging auf die dröhnenden Motoren der Lastwagen am Ladeplatz zu.
    Ohne den Zufall zu bemühen, kann man keinen Roman schreiben. Eine helle Stimme schmettert durch die Luft: «Ding Gou'er! Ding Gou'er, du blöder Hund! Was treibst du denn hier?»
    Ding Gou'er sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein struppiger schwarzer Haarschopf und darunter ein munteres lebendiges Gesicht begrüßten seinen Blick.
    Sie stand neben ihrem Lastwagen und hielt ein Paar verschmutzte weiße Handschuhe in der Hand. Im hellen Sonnenschein sah sie ein wenig wie ein kleiner Esel aus.
    «Komm her, du blöder Hund!» Sie schwenkte ihre Handschuhe durch die Luft wie einen Zauberstab, der den deprimierten Ding Gou'er mit unwiderstehlicher Gewalt

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