Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
ließ schweigend den Kopf hängen wie ein Trauergast bei einer Beerdigung.
    Das kleine schwarze Maultier stand auf drei Beinen. Das vierte, das verwundete Hinterbein, klopfte wie ein kleiner Trommelschlägel gegen ein Stück fauliges Holz. Dunkles Blut strömte über den hölzernen Stiel der Peitsche und färbte die Straße rot.
    Mit laut klopfendem Herzen wollte Ding Gou'er sich abwenden, aber die Frau mit dem alkalischen Boden umklammerte sein Handgelenk mit eisernem Griff. Ohne sie hatte er nirgends hinzugehen.
    Die Meinungen der Umstehenden waren geteilt. Die einen sympathisierten mit dem kleinen Maultier, die anderen mit dem Lenker des Karrens. Die einen schoben dem Wagenlenker die Schuld am Unfall zu, die anderen dem unebenen verkommenen Pflaster. Wie eine Schar streitender Raben.
    «Platz da! Platz da!»
    Überrascht machten die Zuschauer zwei kleinen hageren Gestalten Platz, die plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht waren. Bei näherem Hinsehen entpuppten sie sich als zwei Frauen mit geisterhaft weißen Gesichtern so blass wie Winterkohl. Sie trugen fleckenlos weiße Uniformen und dazu passende Mützen. Die eine trug einen mit Wachstuch bespannten Bambuskorb, die andere einen Weidenkorb. Ein Paar Engel, so wollte es scheinen.
    «Die Tierärztinnen sind da!»
    Die Tierärztinnen sind da! Die Tierärztinnen sind da! Hör auf zu schreien, kleiner Freund! Die Tierärztinnen sind da! Gib ihnen schnell den Huf. Sie werden ihn wieder dranmachen.
    Schnell erklärten die weißen Frauen: «Wir sind keine Tierärztinnen. Wir arbeiten als Köchinnen im Gästehaus. Morgen kommt eine Delegation der Stadtverwaltung, um die Zeche zu besichtigen, und der Bergwerksdirektor hat angeordnet, sie als besonders wichtige Gäste zu behandeln. Huhn und Fisch, sonst haben wir nichts Besonderes zu bieten. Und gerade als wir anfingen, uns richtig Sorgen zu machen, haben wir gehört, dass ein Maultier einen Huf verloren hat.»
    «Gedünstete Maultierhufe, Maultierhufe in Hühnerbrühe.»
    «Komm schon, Mann. Verkauf ihnen den Huf»
    «Nein, nein, ich kann nicht …» Der Mann klammerte sich an den Huf. Der Ausdruck liebevoller Besorgnis stand in seinem Gesicht, als hielte er die abgeschlagene Hand einer Geliebten in der seinen.
    «Hast du den Verstand verloren, du Vollidiot?», beschimpfte ihn eine der Frauen in Weiß. «Willst du das Ding etwa wieder ankleben? Und wo willst du eigentlich das Geld dafür hernehmen? Ich glaube nicht, dass sich heutzutage jemand so etwas leisten könnte, wenn es um einen Menschen ginge, geschweige denn ein Maultier.»
    «Wir werden einen guten Preis bezahlen.»
    «So ein Angebot findest du nicht an jeder Straßenecke.»
    «Also, ihr beiden … was bietet ihr?»
    «Dreißig Yuan pro Stück. Ist das etwa kein guter Preis?»
    «Ihr wollt nur die Hufe?»
    «Nur die Hufe. Den Rest kannst du behalten.»
    «Alle vier? Der Kleine lebt doch noch.»
    «Und zu was soll er mit einem Huf zu wenig gut sein?»
    «Aber er lebt noch …»
    «Dummes Gerede! Machen wir jetzt ein Geschäft, oder nicht?»
    «Da ist das Geld. Zähl nach!»
    «Spann ihn aus! Und beeil dich ein bisschen!»
    Der Mann hielt das Geld für die vier Hufe in der Hand. Sichtlich zitternd überreichte er einer der Frauen in Weiß den abgetrennten Huf. Sie legte ihn vorsichtig in ihren Bambuskorb. Die andere Frau nahm ein Messer, ein Beil und eine Knochensäge aus ihrem Weidenkorb, sprang auf und befahl dem Wagenlenker mit energischer Stimme, das kleine schwarze Maultier auszuspannen. Mit gekreuzten Beinen und eingeknickter Hüfte kauerte er am Boden und befreite das kleine schwarze Maultier mit zitternden Fingern aus dem Geschirr. Was nun geschah, mag langsam klingen, wenn man es erzählt, aber in Wirklichkeit war es in Sekundenschnelle vorbei. Die Frau in Weiß hob das Beil, zielte genau auf die Mitte der breiten Stirn des Maultiers und schlug mit aller Macht zu. Das Beil grub sich so tief in den Schädelknochen, dass sie es mit aller Gewalt nicht wieder herausziehen konnte. Und während sie noch versuchte, ihr Beil zu retten, knickten die Beine des kleinen schwarzen Maultiers ein, und das Tier sank zu Boden und blieb flach ausgestreckt zwischen den Schlaglöchern auf der Straße liegen.
    Ding Gou'er atmete tief durch.
    Noch bewies sein flacher knarrender Atem, dass das kleine Maultier am Leben war. Links und rechts von dem Beil, das sich tief in seinen Schädelknochen gegraben hatte, liefen dünne Blutströme über seine Stirn, seine Lider, seine

Weitere Kostenlose Bücher