Die Schnelligkeit der Schnecke
Sieh her. Als Erstes werfe ich die obere Karte nach links, also das Ass. Kaum hab ich die Karte losgelassen, lege ich den Zeigefinger, der ja jetzt frei ist, auf den Rand der Karte, die ich noch in der Hand habe, und hebe den Mittelfinger. Deshalb hast du den Eindruck, dass die Karte, die ich in der Hand habe, die ist, die vorher oben war und die ich deiner Meinung nach die ganze Zeit zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten habe. Aber du irrst dich. An dem Punkt lege ich die zweite Karte ab, sehr langsam und auch ein bisschen unbeholfen, damit du den Eindruck bekommst, dass ich ein bisschen durcheinandergekommen bin und mir der Trick nicht ganz gelungen ist.«
Er wiederholte die Handbewegung sehr langsam, damit Massimo sie nachvollziehen konnte. Dann legte er die Karten wieder zum restlichen Stapel.
»Das Wichtige ist, deine Aufmerksamkeit auf die falsche Stelle zu lenken, dich glauben zu lassen, was ich dich glauben lassen will. Ich hab in den Häfen Leute gesehen, die davon gelebt haben. Und ich war genauso gut wie sie. Vielleicht sogar besser.«
»Jetzt hab ich’s verstanden. Aber was ist, wenn ich die richtige Karte erwische?«
»Die erwischst du nicht. Vertrau mir.«
»Nicht im Traum. Jemandem vertrauen.« Massimo unterstrich seine Aussage mit einer Handbewegung. »Das letzte Mal, als ich jemandem vertraut habe, hat mir das nur zwei Hörner so groß wie Tannenbäume eingebracht. Ich vertraue nur dem, was ich sehe.«
»Na gut. Also, wenn wir am Hafen wären, dann hätte ich einen Komplizen im Publikum versteckt. Wenn du die richtige Karte erwischen würdest, würde ich dich fragen, ob du dich sicher genug fühlst, um deinen Einsatz zu verdoppeln. Und du wärst wahrscheinlich einen Augenblick unentschieden. Das bisschen reicht meinem Komplizen, um ›Ich verdopple den Einsatz!‹ zu rufen. Also nimmt er deinen Platz ein, gewinnt an deiner Stelle und gibt mir hinterher das Geld wieder.«
»Und wenn ich ein bisschen aufgeweckter bin und gleich sage: ›Ich verdopple!‹?«
»Kein Problem. Dann gewinnst du. Aber mein Komplize wird sich dir unauffällig nähern, und wenn du dich entfernst, wird er dir bis nach Hause folgen und darauf warten, dass du irgendwann durch eine schlecht beleuchtete Gasse kommst. Dann wird er einen hübschen Knüppel rausziehen und dich davon überzeugen, ihm alles zu geben, was du in der Tasche hast. Immer unter der Voraussetzung, dass er dir nicht gleich den Knüppel über den Kopf haut. Kommt drauf an, was für ein Typ er ist.«
»Ich verstehe. Aber was ...«
»Aber was, aber was. Hör auf zu nerven, Massimo. Wenn meine Oma Räder hätte, wäre sie ein Omnibus. Komm schon, mach dir diese schiacciatina und iss sie, dann kannst du mir ein bisschen erzählen, was man sich auf dem Kommissariat so erzählt. Ich sitz hier schon den ganzen Vormittag, da hab ich doch wohl ein Recht auf ein paar Vorabinformationen.«
Sechs
Der Morgen eines heiteren Tages nach Tagen voller Regen und Wind sorgt immer für gute Laune. Die Luft ist klar, sauber und kristallen, gereinigt von all den nanoskopischen Scheußlichkeiten, dringt ganz leicht, ohne jede Anstrengung, in die Lungen und lässt einen sich wunderbar erholt fühlen. In der Ferne zeichnen sich die Berge in all ihren Einzelheiten ab, nicht länger verschleiert von der Staub- und Smogdecke, die gewöhnlich die Atmosphäre verpestet, und sogar die Stadt selbst wirkt klarer, deutlicher und wirklicher.
All dies zusammen – der schöne Tag, das befreite Atmen, die Tatsache, dass er etwas zu tun hatte – hatte Massimos Laune dermaßen gehoben, dass nicht einmal die Aussicht, mit dem Auto nach Pisa hineinfahren zu müssen, es schaffte, ihn in den grundgenervten Seelenzustand zu versetzen, zu dem dieser Umstand ansonsten automatisch führte.
Vor Schreck über die Vorstellung, der pisanische Autofahrer könnte träge werden, hatten die eifrigen Arbeiter der Straßenverkehrsbehörde mit dem Straßennetz tatsächlich eine regelrechte Parallelstadt erschaffen, eine Art perverses Labyrinth aus Einbahnstraßen, absurden Kreisverkehren und dantesken Staus. Die Parallelstadt wurde ihrerseits von Parallelbürgern bewohnt, den Autofahrern: temporären Avataren aus Fleisch und Blut – gefangen in ihrem Cockpit, das seinerseits in der unausweichlichen Dichte des städtischen Verkehrs feststeckte –, die aussschließlich die Hyde-Seite ihrer Persönlichkeit zeigten, indem sie wie Gorillas bei allem ausrasteten, was innerhalb oder außerhalb des Autos
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