Die Schockwelle: Thriller (German Edition)
durch, schloss die Augen und spürte im selben Moment, wie ihr die Tränen über die Wangen rannen. Vor ihrem inneren Auge erschien Veras vor Energie und guter Laune sprühendes Lachen … Abrupt riss sie die Augen auf und versuchte verzweifelt, das zweite Bild, das sich ihr ins Bewusstsein geschoben hatte, zu tilgen: Vera, die blutüberströmt auf dem Fußboden lag …
Da fiel ihr ein, was sie von Riku Tanner gehört hatte. Sie fragte sich, warum Vera ihr nichts von dem Gespräch mit dem Russlandkenner der KRP erzählt hatte. Wen hatte sie sonst noch in Helsinki getroffen?
Elina wischte sich die Tränen ab und kehrte in die Küche zurück.
»Versuch etwas zu essen, wenigstens ein bisschen«, bat sie ihr Vater, der am Küchentisch saß.
»Ich hab keinen Appetit.« Sie griff nach der Kakaotasse. Das Brot auf dem Teller vor ihr konnte sie nicht essen, obwohl ihr Vater es mit ihren Lieblingszutaten belegt hatte, mit Mozzarella, Tomaten und Basilikum.
»Sebastian kommt morgen.«
Der Vater schwieg eine Weile, dann brummte er: »Es ist besser, sich von Schwierigkeiten fernzuhalten.«
»Was meinst du damit?«
»Du weißt doch, wie es Journalisten ergangen ist, die es gewagt haben, die russische Führung zu kritisieren.«
Elina schüttelte den Kopf. »Du findest also, dass man die Gesellschaft von Leuten meiden soll, die mutig die Wahrheit sagen?«
»Vielleicht solltest du diese Dinge aus der Vergangenheit einfach ruhen lassen. Es wäre sicher besser, wenn dein Buch nicht erschiene.«
»Ich kann nicht glauben, dass du so etwas sagst! Ausgerechnet du!«
»Du bist schon immer eigensinnig gewesen. Aber muss man sich denn mit Gewalt Ärger einhandeln?«
Elina seufzte schwer. »Ich glaube, ich lege mich jetzt schlafen.« Sie stand auf und ging zu ihrem Zimmer.
»Elina …«
»Lass gut sein.«
Sie schloss die Tür hinter sich und setzte sich aufs Bett. Auf dem großen Kissen lag eine Stoffkatze mit flauschigem weißem Fell. Auch sonst sah das Zimmer aus wie damals, als sie noch zu Hause wohnte. An der Wand hing ein vergrößertes gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto vom Saana-Fjäll, das sie selbst gemacht hatte. Lappland war ihre Leidenschaft – das hatte sie von ihrem Vater geerbt. Sie besaßen ein bescheidenes Sommerhäuschen in Kilpisjärvi, und vor allem während der Zeit, die sie zum Studieren in England verbracht hatte, war es ihr luxuriös vorgekommen, sich mit einem guten Buch in die Ruhe der Wildnis zurückzuziehen. Von klein auf war sie lange Strecken gewandert und daran gewöhnt, sich alleine zurechtzufinden.
Für einen Moment umhüllte sie das aus der Kindheit vertraute Gefühl der Sicherheit, aber dann löste sich die Illusion gleich wieder in Luft auf.
Es war vollkommen unmöglich, nicht an Vera zu denken, an den Mörder, der sich über sie beugte …
Elina starrte auf ihr Handy und überlegte, ob sie noch einmal Sebastian anrufen sollte.
Sie hatte den Berliner Fotografen im Mai kennengelernt, am romantischsten Ort der Welt: im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde. Sebastian war aus beruflichen Gründen dort gewesen, und Elina hatte nach Informationen über die Beziehungen von Mitarbeitern der DDR-Vertretung in Helsinki zu finnischen Staatsbürgern gesucht.
Elina war mit einem unfreundlichen Archivbeamten in Streit über die Kopien von Karten aus der zentralen Vorgangsdatei F-22 geraten, und Sebastian hatte sich eingemischt. Nach dem Zwischenfall waren sie zum Mittagessen in ein nahe gelegenes Restaurant gegangen. Elina hatte geglaubt, bereits alles über Registernummern und Decknamen zu wissen und über SIRA, das Recherchesystem des DDR-Nachrichtendienstes »Hauptverwaltung Aufklärung«, kurz HVA, aber Sebastian war weitaus besser im Bilde gewesen. Er hatte nicht verraten, wo er seine praktischen Archivkenntnisse herhatte, aber Elina vermutete, dass er die Stasi-Verbindungen einiger Personen untersucht hatte.
Zwei Wochen später hatte Sebastian ihr im selben Archiv eine bekannte russische Journalistin vorgestellt. Elina hatte Vera Dobrinas bissige, auf gründlichen Recherchen basierende Artikel gelesen und war begeistert gewesen, die Frau persönlich kennenzulernen.
In einem Restaurant am Savignyplatz hatten sie sich später lebhaft über Russland unterhalten und festgestellt, dass sie in vielerlei Hinsicht auf einer Wellenlänge lagen. Elina konnte die mutige Person nur bewundern, die es wagte, an ihren Ansichten festzuhalten und sie öffentlich zu machen. Als Vera vor zwei Wochen angekündigt
Weitere Kostenlose Bücher