Die schöne Ärztin
Jemand ging dort hinter den ihn verdeckenden Büschen hin und her, blieb stehen, sah hinüber zur erleuchteten Villa, ging weiter, lehnte sich dann an die bewachsene hohe Mauer, die das Sassen-Grundstück gegen einen Waldweg abschirmte, und nun glomm sogar ein kleiner, roter Punkt in der Dunkelheit auf, wurde schwächer, glühte wieder, erlosch. Der Schatten an der Mauer rauchte.
Oliver entsann sich, wie Winnetou sich an ein feindliches Lagerfeuer anzuschleichen pflegte. Er hatte sich den Film, der das zeigte, zweimal angesehen, denn man konnte daraus nur lernen und es beim eigenen Indianerspielen verwerten.
Er ließ sich leise ins Gras nieder und kroch auf Händen und Füßen an den Büschen entlang auf den alten Schuppen zu. Die Dunkelheit war nun vollständig. Oliver lag unter einem Johannisbeerstrauch und blickte hinüber zu dem glimmenden Punkt an der Mauer. Er sah, daß die windschiefe Tür des Schuppens offenstand und ein ganz schwacher Lichtschein gegen die Mauer fiel.
Jemand wohnt im alten Schuppen, dachte Oliver verblüfft und erschrocken zugleich. Er hat dort Licht, und er steht nun an der Mauer und raucht. Davon weiß bestimmt niemand etwas. Es wird ein Dieb sein, oder ein Landstreicher, der sich hier versteckt hält, oder … oder …
Mit Oliver ging die Phantasie durch. Was ein siebenjähriger Junge denken kann, schoß ihm durch den Kopf. Er lag platt auf dem Bauch, wie Winnetou, sah auf den Schatten mit der Zigarette und wartete. Der Mann warf die Zigarette weg, der Punkt beschrieb einen Bogen durch die Nachtluft, fiel ins Gras, verlöschte.
Dann bewegte sich der Schatten wieder, Oliver hörte leise gemurmelte Worte, die er nicht verstand, den Bruchteil einer Sekunde sah er einen männlichen Körper im Lichtschein des Schuppeneingangs, dann wurde die Tür zugezogen, und der Spuk war vorbei.
Oliver wartete. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und auch das feuchte Gras konnte es nicht ändern, daß er sich wie in einem Backofen fühlte. Wenn jetzt Karl, Helmut und Willi hier wären, dachte er. Wir würden mit Geheul die Hütte stürmen. Aber allein ist das aussichtslos, denn der Mann im Schuppen ist ein großer Mann, viel stärker als ich.
So lag er eine ganze Weile und überlegte, was er tun sollte. Das Einfachste wäre gewesen, zurück zur Villa zu laufen und Papa und Mama zu alarmieren. Aber das wäre auch das Feigste gewesen. Tapferer war es, sich erst einmal anzuschleichen und nachzusehen, wer in der Hütte saß. Vielleicht waren es sogar zwei, oder noch mehr, eine ganze Bande. So etwas kommt vor. Oliver hatte es oft gelesen in den Romanheften, die in der Schule unter der Bank von einem zum anderen weitergegeben wurden.
Oliver entschloß sich, nachzusehen. Da der Schatten in der Hütte war, war es nicht nötig, wie eine Schlange anzuschleichen. Nur Geräusche durfte er nicht machen. Er schlich sich also ein Stück auf der Wiese zurück und ging dann auf Zehenspitzen zum Schuppen, den gleichen Weg, den Veronika und Waltraud Born gemacht hatten.
Das Fenster war von innen verhängt, Oliver legte das Ohr an die Holzwand, aber er hörte nichts als ein leises Pfeifen. Und dann, plötzlich – er prallte fast zurück – ertönte Musik. Zärtliche Tanzmusik, wie sie Sabine auf ihren Platten hatte, die Oliver doof und reizlos empfand.
Er – oder sie, die Bande – hatte ein Radio in der Hütte. Ein Transistorgerät. Oliver kannte diese kleinen Taschenradios. Er besaß selbst eines in seinem Kinderzimmer und suchte manchmal den Äther nach Wildwest-Songs ab, die seine Leidenschaft waren.
Leise, immer noch auf Zehenspitzen, schlich Oliver an der Wand entlang zur Tür, um einen Blick durch eine der vielen Ritzen ins Innere des Schuppens zu werfen. Wieder klopfte sein kleines Herz wild und heiß, aber der Gedanke, jetzt wirklich ein Späher und Pfadfinder zu sein, gab ihm Kraft und neuen Mut. Er suchte eine Ritze, wo das Licht durchschimmerte, fand eine und legte das Auge darauf. In diesem Moment ging die Tür auf und der Mann trat heraus. Oliver konnte nur einen einzigen Blick auf ihn werfen.
Überrascht, überrumpelt, tat Oliver das, was ein guter Späher nie tun sollte: Er verhielt sich nicht still, um mit der Wand zu verschwimmen, die ja im Schatten lag, sondern er sprang zurück und jagte mit weiten Sprüngen die Büsche entlang, um die freie Wiese zu erreichen.
Luigi Cabanazzi stieß einen unterdrückten Fluch aus. Er erkannte sofort, was geschehen war, und er zögerte nicht. Er hetzte Oliver
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