Die schöne Ärztin
unrasiert, seit vier Tagen fast ununterbrochen auf dem Gerüst, reichte einen Zettel an seinen Vater weiter. Die wenigen Sätze aus der Hölle waren außerdem noch auf ein Tonband aufgenommen worden.
»Es sind 53 Mann«, las Dr. Sassen senior vor, »37 Unverletzte, 10 Verwundete und 6 Tote. Von den 37 ist einer wahnsinnig und wird von den anderen festgehalten oder durch Schläge betäubt.« Er ließ die Hand mit dem Zettel sinken. »47 Lebende, meine Herren. Wir sollten beginnen, noch an Wunder zu glauben –«
Am sechsten Tag war das große Bohrloch bis zum toten Stollen durchgetrieben. Die Verrohrung war beendet. Die Dahlbusch-Rettungsbombe hing an der Drahtseilwinde. Bevor der erste hinunterfuhr zu den Eingeschlossenen, hatte man ihnen durch das Probeloch Medikamente und Essen hinabgeschickt, Fruchtsaft und Schokolade. Vor allem aber eine Injektionsspritze, gefüllt mit einem Beruhigungsmittel für den tobenden Wahnsinnigen.
Kurt Holtmann setzte seinen Helm auf und überprüfte noch einmal die Verschnürung des Gürtels, an dem er Lebensmittel und Verbandszeug festgeschnallt hatte. Er war der erste, der hinunterfuhr. Dr. Fritz Sassen und Pater Wegerich sollten ihm folgen. Niemand erhob einen Einwand dagegen, daß es ein Priester war, der auch hinunter in die Hölle wollte. Schweigend sah man es ein. Neben Essen und Trinken war das Gefühl, unter Gottes Schutz zu stehen, ein mächtiger Quell der Kraft.
12
Kurt Holtmann stieg schnell in die enge Bombe, flinke Finger schnallten ihn fest. Ein Kommando, der Motor der elektrischen Winde brummte auf, die Seilrolle drehte sich, langsam versank Kurt Holtmann in der schmalen Röhre.
»Kurt!« schrie ihm Sabine hinterher. Dann sank sie ohnmächtig in die Arme ihres Bruders. Drei Sanitäter trugen sie zu einem der rund um das Bohrgerüst aufgefahrenen Notarztwagen.
Auch Waltraud Born saß mit leeren Augen im engen Raum eines fahrbaren OPs und versuchte vergeblich, das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Ein Unfallarzt aus Gelsenkirchen gab ihr ein Glas Wasser und zwei Beruhigungstabletten.
»Sie werden jetzt aussetzen, Kollegin«, sagte er. »Ihre Nerven sind völlig am Ende. Legen Sie sich hin.«
»Hinlegen?« Waltraud Born sah den Arzt an wie einen Verrückten. »Der nächste, der hinunterfährt, ist mein Verlobter.« Sie faltete die Hände, als wolle sie beten. »Ich habe wahnsinnige Angst. Glauben Sie an böse Ahnungen, an schlechte Träume, die wahr werden können?«
»Nein. Liebe Kollegin, machen Sie sich nicht selbst verrückt. Die Eingeschlossenen sitzen zweihundert Meter über dem Explosionsherd. Sie haben leidlich Luft und wissen, daß sie in wenigen Stunden gerettet sind.«
Waltraud Born lächelte schwach. »Es ist nett, daß Sie mir Mut machen wollen. Aber ich weiß, daß von der 6. Sohle her heiße Gase in alle Hohlräume dringen und daß die Luft in dem toten Stollen immer sauerstoffärmer wird. Sie haben alle Zugänge zu den befahrenen Stollen zugemauert, aber zum sogenannten ›Toten Mann‹ hin ist eine Lücke. Eine neue Explosion kann sie alle zerreißen.«
»Daran sollten wir nicht denken, liebe Kollegin.« Der Arzt hielt ihr das Glas Wasser hin. Gehorsam schluckte Waltraud Born die Beruhigungstabletten.
Über die zu allen Stationen und Kommandostellen führenden Feldtelefone ging die Meldung: Nummer 2 ist eingefahren, Dr. Fritz Sassen. Nummer 3 steht bereit, Pater Wegerich.
Waltraud Born schloß die Augen. Er ist unterwegs. Gott, mein Gott, ich habe in den letzten Jahren nie mehr zu dir gebetet – aber nun bitte ich dich: Verlaß ihn nicht!
Nachdem auch Pater Wegerich eingefahren war, hielt alles den Atem an. Wann würde der erste der Geretteten ans Tageslicht kommen? Würde es gelingen, alle zu bergen? Wie war die Sauerstofflage in dem alten Stollen? Die Sprechverbindung war plötzlich abgerissen, in dem Augenblick, als die Rettungsbombe mit Kurt Holtmann in die Tiefe schwebte. Die Leitung war nicht unterbrochen, aber unten im Stollen mußte etwas geschehen sein. Es antwortete keiner mehr, obwohl Dr. Ludwig Sassen immer wieder hinunterrief.
Ein Gerücht flog von Mund zu Mund und verbreitete sich mit Windeseile in ganz Buschhausen: Es ist zu spät. Das Gas hat die Eingeschlossenen erreicht. Sie sind alle erstickt. Alle! Der Berg hat sie uns nicht mehr hergegeben.
In dem engen, halb mit Geröll gefüllten Seitenschlag des ›Toten Mannes‹ wurde Kurt Holtmann von vier Händen aus der Dahlbuschbombe gezogen. Es war die letzte Aktion von
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