Die schöne Ärztin
Ingenieure erschöpft den Kopf gegen den Fels gelehnt und die Augen geschlossen hatte. Da hatte er, kaum wahrnehmbar, wie ein hauchfeines Vibrieren des Gesteins nur, das Klopfen gehört – nicht ein Rollen im Berg, sondern ein rhythmisches Klopfen, so, als wenn ein paar Mann mit eisernen Stützen gegen das Gestein rannten, immer und immer wieder.
Kurt Holtmann und zwei Berginspektoren fuhren wieder ein und standen dann in der 4. Sohle. Mit Membranstethoskopen und Verstärkern tasteten sie die Wände ab, wie Ärzte, die einen riesigen Brustkorb abhörten, um das Geräusch einer beschädigten Lunge wahrzunehmen.
»Da … da ist es!«
Einer der Berginspektoren hielt die Membrane an den Fels. Ganz fern, aber nun deutlich hörbar, getragen von Felsschicht zu Felsschicht, hörten sie es. Bum-bum-bum. Pause. Bum-bum-bum.
»Die Karte!«
Im Licht des Handscheinwerfers studierten sie die alten Pläne der seit Jahren stillgelegten Stollen und Gänge, der aufgefüllten Sohlen und Querschläge, der verlassenen Schächte. Es gab gar keine andere Möglichkeit: Von der brennenden Sohle 6 waren die Überlebenden durch einen alten Wetterschacht nach oben geklettert und saßen nun in einem verlassenen Grubenteil, umgeben von zugeschütteten Stollen, unter sich die flammende Hölle. Sie hatten sich in ein Grab gerettet, aus dem es nur eine Möglichkeit der Bergung gab: Die Anbohrung von oben.
»Wie tief liegen sie?« fragte Kurt Holtmann.
»Etwa sechshundertdreißig Meter.«
»Das ist Wahnsinn.« Er faltete die Karte zusammen und drückte das Hörgerät noch einmal gegen den Fels.
Bum-bum-bum – Sie klopften wieder. Die Verzweiflung verlieh ihnen Kräfte, die nicht erlahmten. Sie wollten nicht verhungern und verdursten. Und so rannten sie mit irgendwelchen Gegenständen gegen den Berg und pochten um Hilfe! Sie müssen uns hören – das war ihre einzige Hoffnung. Sie werden uns suchen und hören! Sie werden uns hier nicht sterben lassen!
Die Berginspektoren sahen ratlos drein und tappten zusammen mit Holtmann zurück zum Hauptförderschacht. Schweigend fuhren sie aus und wurden oben von Direktor Dr. Sassen und Dr. Vittingsfeld in Empfang genommen.
»Sie leben noch«, sagte Kurt Holtmann heiser. »Es stimmt … sie klopfen. Wir müssen bohren. Die Stelle muß genau berechnet werden …«
Nach vier Stunden wußte man, wo unter der Erde, mehr als sechshundert Meter tief, einige Überlebende den Flammen entgangen waren. Die Berechnungen waren exakt. Ein Bohrturm aus Gelsenkirchen war schon unterwegs, aus dem Ölgebiet an der Ems sollte ein Tiefbohrer kommen. Drei Kilometer südlich der Schachtanlage lag das Gebiet, ein Kartoffelacker, über den jetzt die ersten Planierraupen krochen, um das Fundament für das Bohrgerüst zu walzen.
Dr. Vittingsfeld gab eine neue Pressekonferenz.
»Wir werden keine Mittel scheuen, die Überlebenden zu bergen!« rief er. »Es ist eine heilige Aufgabe!«
Auf Buschhausen, auf das Ruhrgebiet, auf die Deutschen richtete sich gebannt das Auge der Welt. Was werden sie machen, die Deutschen? Wie werden sie es machen? Wird es ihnen gelingen? Ein kleiner Fleck in dem Kartoffelacker des Bauern Schulze-Wittig wurde zum Brennpunkt des Interesses ungezählter Millionen auf dem ganzen Erdball.
Vier Tage fraßen sich die Bohrköpfe in das Gestein.
Vier Tage und Nächte rissen die Meißel die Felsen auf, wurden die gebohrten Meter verrohrt, das Gestänge gewechselt, verlängerte sich der Bohrstab ins Gigantische.
Zweihundert Meter … zweihundertfünfzig … dreihundert …
Die Hälfte! Nach drei Tagen!
Im Berg hörte man kein Klopfen mehr. Verbissen arbeiteten über Tage die Bohrfachleute. Es gab keinen Schlaf, nur ein minutenlanges Ausruhen, ein Atemschöpfen. Und dann weiter, weiter, hinein in die Erde, hinunter in die Tiefe.
Vierhundert Meter …
Bei Meter 570 pflanzte sich ein Schrei fort vom Bohrturm über die Plattform hinunter zu den Wartenden und von dort bis nach Buschhausen hinein. Ein Schrei, den die Rundfunkstationen um die Welt schickten:
»Sie leben noch! Wir haben Kontakt! Sie antworten! Sie leben!«
Noch waren es nur wieder Klopfzeichen. Dann, nach weiteren sechs Stunden, war ein kleines, im Durchmesser zehn Zentimeter messendes Bohrloch in den toten Stollen getrieben. Ein Mikrophon pendelte in die Tiefe, und aus der Erde, aus sechshundert Metern Tiefe, ertönte eine dumpfe, kaum verständliche Stimme. Sie brach nach wenigen Sätzen vor Erschöpfung ab. Dr. Fritz Sassen, hohlwangig,
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