Die schöne Ballerina (German Edition)
aufzulegen.
Im Vorübergehen bemerkte sie, dass Seth sie beobachtete. Er sah sie ganz ruhig mit unbewegtem Gesicht an, und doch lag in der Intensität seines Blickes etwas, das Lindsay beunruhigte. Sie versuchte das Zittern ihrer Hände zu verbergen, als sie eine Ballettmusik von Tschaikowsky auflegte.
»Es dauert nicht mehr lange, Mr Bannion«, wandte sie sich an Seth. »Höchstens noch eine halbe Stunde. Soll ich Ihnen inzwischen schnell eine Tasse Kaffee machen?«
Er ließ sich viel Zeit mit der Beantwortung dieser einfachen Frage, und seltsamerweise schlug Lindsay unterdessen das Herz bis zum Hals.
»Nein«, sagte er schließlich, und beim Klang seiner Stimme wurde es Lindsay plötzlich warm. »Nein, vielen Dank.«
Lindsay schritt steifbeinig, als hätte sie nicht gerade noch Lockerungsübungen gemacht, zur Spiegelwand und lehnte sich Halt suchend an die Stange. Sie ärgerte sich und wusste nicht, ob über sich selbst oder über Seth.
»Fertig, Ruth? Stell dich bitte in die Mitte der freien Fläche. Ich möchte jetzt einige adagios sehen.«
Die meisten ihrer Schülerinnen mochten am liebsten schnelle Schrittkombinationen, pirouettes und Sprünge. Gerade deshalb legte Lindsay besonderen Wert darauf, ihnen die adagios – langsame, verhaltene Bewegungen, bei denen es auf Balance, Haltung und Stil ankam – nahe zu bringen.
»Können wir anfangen?«
»Ja, Miss Dunne.«
Jetzt wirkt sie überhaupt nicht mehr scheu, dachte Lindsay, die den Glanz in Ruths Augen bemerkt hatte.
»Wir beginnen mit der vierten Position. Jetzt bitte eine langsame pirouette . Ja, gut. Fünfte Position.«
Die Ausführungen waren sauber, die Bewegungen graziös. »Nun einmal, vierte Position, dann pirouette und attitude . Schön.« Lindsay schritt einmal ganz um Ruth herum, um ihre Haltung besser beurteilen zu können. »Jetzt arabesque und noch einmal attitude . Anhalten, plié !«
Ruth hatte ganz ohne Zweifel Talent. Darüber hinaus war sie diszipliniert und schien auch Ausdauer zu besitzen. Ihre zarte Schönheit würde ihr bei ihrer zukünftigen Karriere sehr zugutekommen.
Ich werde ihr helfen, dachte Lindsay. Sie fühlte sich zu Ruth hingezogen und freute sich über ihr Können. Gleichzeitig empfand sie aber auch Mitleid bei der Vorstellung an die Mühen und Entsagungen, die diesem jungen Geschöpf noch bevorstanden, denn es gab noch vieles zu tun. Dabei war es leichter, schwierige Schritte und Sprünge zu erlernen als den vollkommenen Gleichklang von Technik und Ausdruck. Aber sie wird das große Ziel bestimmt erreichen, sagte sich Lindsay, ich bin sicher, sie wird es schaffen.
Etwa fünfundvierzig Minuten waren vergangen. »Entspann dich«, rief Lindsay und stellte den Plattenspieler ab. »Ganz offensichtlich hast du nur gute Lehrer gehabt.«
Sie ging auf Ruth zu, die ihr erwartungsvoll und fast ängstlich entgegensah. Ohne an Ruths Scheu vor Berührungen zu denken, legte sie ihr beruhigend die Hände auf die Schultern, zog sie jedoch schnell wieder zurück, als sie deren Zurückweichen bemerkte.
»Du hast großes Talent. Aber«, fügte sie lächelnd hinzu, »das brauche ich dir wohl nicht erst zu bestätigen. Du weißt es selbst, nicht wahr? Du bist ja nicht dumm.«
Mit Freude bemerkte Lindsay die Wirkung ihrer Worte. Ruths Gesicht schien plötzlich von innen heraus zu leuchten. Der Körper entspannte sich.
»Wenn Sie wüssten, wie viel mir gerade an Ihrem Urteil gelegen ist!«
Überrascht hob Lindsay die Augenbrauen. »Warum?«
»Weil Sie die beste Tänzerin sind, die ich in meinem Leben gesehen habe. Und wenn Sie nicht aufgegeben hätten, wären Sie heute die berühmteste Ballerina im ganzen Land! ›Die viel versprechendste amerikanische Tänzerin dieses Jahrzehnts‹ hat man Sie in einer Zeitung genannt. Davidov wählte Sie zu seiner Partnerin, und er sagte, Sie seien die bezauberndste Julia, mit der er je auf einer Bühne gestanden habe und …«
Abrupt unterbrach Ruth ihren langen Redeschwall und errötete.
Lindsay war gerührt. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, antwortete sie leichthin: »Ich fühle mich äußerst geschmeichelt. Solches Lob höre ich nicht alle Tage.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Die anderen Mädchen werden dir erzählen, dass ich als Lehrerin recht schwierig sein kann. Sehr streng. Ich verlange viel, besonders von meinen älteren Schülerinnen. Du wirst hart arbeiten müssen.«
»Oh, das macht mir nichts aus.«
»Sag mir, Ruth, welches Ziel hast du dir
Weitere Kostenlose Bücher