Die schöne Ballerina (German Edition)
bei jedem ihrer bisherigen Besuche sogleich von dem großen Panoramafenster angezogen, das einen überwältigenden Blick auf die Bucht von Long Island und auf das Meer bot. Als sie an ihrem von Kerzen beleuchteten Tisch Platz genommen hatten, glaubte sie, die Wellen des Ozeans zu hören.
»Ich mag diese Umgebung wirklich sehr«, meinte sie begeistert. »Hier drinnen im Restaurant herrscht unaufdringliche Eleganz, und ein Blick durch das Fenster vermittelt den Eindruck, direkt am Meer zu sein.« Sie lächelte Seth zu. »Ich mag Gegensätze – Sie auch?« Das Kerzenlicht warf einen weichen Schimmer auf ihr Gesicht. »Wie langweilig wäre das Leben doch ohne sie, nicht wahr?«
»Ich dachte gerade darüber nach, wie widersprüchlich Sie selbst sind. Es fällt mir immer noch schwer, Sie einzuordnen.«
Lindsay blickte schnell aus dem Fenster. »Das fällt sogar mir selbst schwer«, gestand sie. »Sie kennen sich selbst ziemlich genau, nicht wahr? Man merkt es Ihnen irgendwie an. Vielleicht, weil Sie so selbstsicher wirken.«
»Möchten Sie vor dem Essen einen Drink?«
Lindsay bemerkte, dass inzwischen ein Kellner an ihren Tisch getreten war. Sie lächelte ihm zu, bevor sie sich an Seth wandte. »Ja, Weißwein wäre nicht schlecht. Ich möchte irgendetwas Kaltes, Trockenes.«
Er sieht so unternehmungslustig aus, dachte Lindsay. Nein, das ist nicht der richtige Ausdruck. Er sieht aus wie ein Mann, der gerade die erste Seite eines Buchs umgeschlagen hat und den festen Entschluss fasst, es auf jeden Fall bis zur letzten Seite zu lesen.
Als sie wieder allein waren, saßen sie schweigend da, bis Lindsay seine Blicke nicht länger ertragen konnte. Sie beschloss, ein unverfängliches Thema anzuschneiden.
»Wir müssen über Ruth sprechen.«
»Ja«, murmelte er abwesend.
»Seth«, rief sie verwirrt, weil er nicht einmal zuzuhören schien. »Seth, Sie müssen sofort aufhören, mich so anzusehen!«
»Aber warum denn?«
In gespielter Verzweiflung hob sie die Hände. »Und dabei fing ich gerade an, Ihnen Ihre Unhöflichkeit von gestern zu verzeihen.«
»Ich war nicht unhöflich«, erklärte er, wobei er sich entspannt in seinem Stuhl zurücklehnte. »Sie sind schön. Und ich sehe mir nun mal gern Schönes an.«
»Danke für das Kompliment.« Lindsay hoffte, sie würde sich, bevor der Abend zu Ende ging, an seine Blicke gewöhnen. Sie beugte sich über den Tisch. »Seth!« Ihr lag wirklich daran, mit ihm über seine Nichte zu sprechen. »Seth, als ich Ruth heute Morgen prüfte, stellte ich fest, dass sie großes Talent hat. Später, beim Unterricht, war ich noch mehr von ihr beeindruckt.«
»Ihr liegt sehr viel daran, bei Ihnen zu studieren.«
»Aber das ist es ja gerade, worüber wir uns unterhalten müssen.« Lindsay sprach so eindringlich, dass Seth endlich aufmerksam wurde. »Ich kann ihr nicht geben, was sie braucht, denn ich habe in meiner Schule nur begrenzte Möglichkeiten, die für eine Schülerin wie Ruth nicht genügen. Sie sollte eine Schule in New York besuchen, wo sie viel intensiver ausgebildet werden kann.«
Seth wartete, bis der Kellner die Flasche geöffnet und den Wein eingegossen hatte. Er hob sein Glas und betrachtete den Inhalt nachdenklich, bevor er fragte: »Heißt das, Sie sind nicht fähig, Ruth zu unterrichten?«
Lindsay biss sich auf die Lippen. Als sie antwortete, klang ihre Stimme nicht mehr warm. »Ich bin eine gute Lehrerin. Aber Ruth braucht die beste Ausbildung, die sie bekommen kann.«
»Sie sind sehr leicht gekränkt«, meinte er und nippte an seinem Wein.
»Finden Sie?« Lindsay versuchte genauso überlegen zu wirken wie Seth. »Vielleicht bin ich nur launisch. Sie haben doch sicher schon von den schnell wechselnden Stimmungen der Künstler gehört.«
»Ruth beabsichtigt, mehr als fünfzehn Trainingsstunden pro Woche zu nehmen. Genügt das nicht für eine gute Ausbildung?«
»Nein.« Lindsay beugte sich wieder zu ihm hinüber. Wenn er Fragen stellt, kann er nicht uninteressiert sein, dachte sie. »Ruth sollte jeden Tag Unterricht haben, und zwar sehr spezialisierten Unterricht, den ich ihr nicht geben kann. Weil ich einfach keine anderen Schülerinnen mit ihren Fähigkeiten habe. Selbst, wenn ich ihr Einzelunterricht geben würde, wäre das immer noch nicht genug für sie. Sie braucht zum Beispiel Partner für den pas de deux . Ich habe vier männliche Schüler, die einmal in der Woche zu mir kommen, damit ich an ihrer Technik fürs Rugby ein bisschen herumpoliere. Sie nehmen
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