Die schöne Ballerina (German Edition)
nach ihrem Onkel zu fragen, widerstanden. Wegen dieses Mannes werde ich mich nicht zum Narren machen, dachte sie.
»Brenda, denk an die Hände!«
Lindsay demonstrierte eine fließende Bewegung aus dem Handgelenk heraus, als zu ihrer Überraschung das Telefon klingelte. Stirnrunzelnd blickte sie auf die Uhr. Normalerweise rief niemand während der Unterrichtsstunden im Studio an. Sollte mit ihrer Mutter etwas nicht in Ordnung sein?
»Brenda, übernimm du für einen Augenblick«, rief sie ihrer Schülerin zu, stürzte, ohne eine Antwort abzuwarten, in ihr Büro und riss den Hörer hoch.
»Cliffside Tanzschule«, meldete sie sich ein wenig atemlos.
»Lindsay? Lindsay, bist du es?«
»Ja, ich …« Dann erkannte sie die Stimme und den russischen Akzent. »Nick! Oh Nick, wie schön, deine Stimme zu hören! Von wo aus rufst du an? Wo bist du?«
»In New York, natürlich.« Sie hörte ihn lachen. Dieses Lachen, das tief aus der Kehle zu kommen schien, hatte sie immer gern gemocht. »Was macht deine Schule?«
»Sie geht gut voran. Ich habe gerade mit einigen meiner guten Schülerinnen trainiert. Eine ist ganz besonders begabt, und ich würde sie dir gern schicken, Nick. Sie ist wirklich etwas ganz Außergewöhnliches, herrlich gewachsen und …«
»Später, später.« Lindsay glaubte die Handbewegung, mit der er ihr das Wort abschnitt, förmlich zu sehen. »Zuerst will ich über dich sprechen. Geht es deiner Mutter gut?«
Lindsay zögerte nur kurz mit der Antwort. »Viel besser. Sie kommt schon seit einiger Zeit recht gut allein zurecht.«
»Wunderbar. Ausgezeichnet. Wann bist du wieder bei uns?«
»Nick.« Lindsay unterdrückte einen Seufzer und blickte wehmütig auf die Fotos an der Wand, auf denen sie mit dem Mann, der sich jetzt am anderen Ende der Telefonleitung befand, tanzte. Drei Jahre, dachte sie. Es könnten genauso gut dreißig sein. »Es ist zu lange her, Nick.«
»Rede keinen Unsinn! Du wirst hier gebraucht.«
Sie schüttelte den Kopf. Immer noch der kleine Diktator, dachte sie. »Ich bin nicht mehr in Form, Nick. Jedenfalls nicht genug, um in die alte Mühle zurückzukommen. Jüngere Talente drängen nach.« Unwillkürlich dachte sie dabei an Ruth. »Und das ist auch richtig so.«
»Seit wann schreckst du vor schwerer Arbeit zurück oder vor ein bisschen Konkurrenz?«
Die Herausforderung in seiner Stimme war ihr von früher her bekannt, und sie musste unwillkürlich lächeln. »Nick, wir sind uns doch beide darüber klar, dass man drei Jahre Unterrichten nicht mit drei Jahren auf der Bühne vergleichen kann. Die Zeit bleibt nicht stehen, Nick, nicht einmal für dich.«
»Angst?«
»Ja, wenigstens ein bisschen.«
Er lachte über das Geständnis. »Gut. Die Angst wird dir helfen, noch besser zu tanzen. Ich brauche dich, ptitschka – mein Vögelchen. Ich habe mein erstes eigenes Ballett fast fertig geschrieben.«
»Nick, wie wundervoll! Ich hatte ja keine Ahnung, dass du daran arbeitest.«
»Mir bleibt noch ein Jahr zum Tanzen. Wenn ich Glück habe, zwei. Ich habe kein Interesse an Charakterrollen.«
Während der kleinen Pause, die entstand, hörte Lindsay die Mädchen das Übungszimmer verlassen, um sich umzukleiden.
»Man hat mir den Posten des Direktors angeboten.«
»Das überrascht mich nicht im Geringsten«, erwiderte Lindsay herzlich. »Ich freue mich für dich. Sie können aber auch froh sein, wenn sie dich bekommen.«
»Ich will, dass du zurückkommst. Ich kann es arrangieren, weißt du? Brauche nur ein paar Fäden zu ziehen.«
»Ich will aber nicht. Ich …«
»Es gibt niemanden, der mein Ballett so tanzen kann wie du. Die Hauptrolle ist Ariel. Und du bist Ariel!«
»Nick, bitte!« Lindsay ballte die freie Hand zur Faust. Sie hatte die Welt, in die er sie zurückholen wollte, hinter sich gelassen.
»Lindsay, wir sollten das nicht am Telefon besprechen. Sobald ich das Ballett fertig geschrieben habe, komme ich zu dir nach Cliffdrop.«
»Cliffside«, korrigierte Lindsay.
»Side, drop. Wo ist da der Unterschied? Ich bin Russe. Man erwartet, dass ich Fehler mache. Ich komme im Januar«, fuhr er fort, »und dann nehme ich dich gleich mit nach New York.«
»Nick, wenn du es sagst, klingt es, als wäre es das Einfachste von der Welt.«
»Das ist es auch, ptitschka . Also bis Januar!«
Lindsay nahm den Hörer vom Ohr, als es klickte. Nick hatte einfach eingehängt. Typisch, dachte sie.
Nick war bekannt für große, impulsive Gesten, aber auch für absolute Hingabe an seinen
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