Die schöne Ballerina (German Edition)
Beruf. Er war ein glänzender Tänzer, und an Selbstvertrauen hatte es ihm noch nie gefehlt.
Nick hat noch nicht mit seiner Vergangenheit abgeschlossen, dachte Lindsay, warum sollte er? Er hat noch zwei Jahre vor sich, und was dann kommt, steht auf einem anderen Blatt. Nick lebt in der Gegenwart. Für ihn ist es aber auch leichter als für mich, denn für ihn gab es nie etwas anderes als die Bühne. Bei mir dagegen hat sich in den letzten Jahren so viel geändert. Ich weiß nicht einmal, was ich noch kann – nicht einmal, was ich will.
Sie schlang die Arme um die Brust und umfasste ihre Ellbogen, als wolle sie sich vor etwas schützen. Vor was? Vor Entscheidungen?
Ich habe mich zu lange treiben lassen, warf sie sich vor und ging ins Ankleidezimmer zu ihren Schülerinnen. Die meisten trödelten noch, obgleich sie schon umgezogen waren. Draußen war es kalt, und hier drinnen konnte man sich noch so gemütlich unterhalten.
Ruth war an die barre zurückgekehrt, um noch ein bisschen für sich allein weiter zu üben. Lindsay ging an ihr vorüber, als Monika rief: »Ruth und ich gehen gleich eine Pizza essen und hinterher ins Kino. Hast du Lust, mitzukommen, Lindsay?«
»Hört sich verlockend an. Aber ich muss noch ein wenig an der Choreografie zur Nussknacker-Suite tun. Bis Weihnachten ist es nicht mehr lang.«
So einfach ließ sich Monika nicht abschütteln. »Du arbeitest zu viel, Lindsay.«
Lindsay lachte. »Mach dir keine Sorgen. So schlimm ist es gar nicht.«
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Begleitet von einem Schwall kalter Luft betrat Andy das Studio. Seine Haut war gerötet vor Kälte.
»Hallo!« Lindsay streckte ihm beide Hände entgegen. »Dich habe ich heute Abend gewiss nicht erwartet.«
»Sieht ja so aus, als hätte ich den Zeitpunkt genau richtig abgepasst.« Er sah sich nach den Schülerinnen um, die sich nun doch zum Gehen entschlossen hatten und ihre Mäntel anzogen.
Beiläufig grüßte er zu Monika hinüber, die darüber vor Freude errötete. »Hallo, Andy«, stammelte sie.
Ruth hatte die Begrüßung vom anderen Ende des Raumes aus beobachtet. Ihr war die Situation sofort klar: Andy war in Lindsay verliebt und Monika in Andy. Sie hatte genau gesehen, wie Monika vor Freude über seinen Gruß errötet war. Er dagegen hatte nur Augen für Lindsay. Wie seltsam die Leute manchmal sind, dachte sie, während sie ein grand plié ausführte.
Lindsay war Ruths großes Vorbild. Sie sah in ihr die erfolgreiche Ballerina, schön und begabt. Niemand konnte ihrer Meinung nach mit Lindsay konkurrieren, mit ihrem Können, ihrem Stil. Wie leicht waren ihre Bewegungen, ihre Schritte, ihre Gesten.
Ruth beneidete Lindsay nicht, wenn sie ihr beim Tanzen zusah, und sie sah ihr oft zu. Sie glaubte, Lindsay immer besser kennenzulernen, und bewunderte deren Offenheit, Herzlichkeit und die Wärme, mit der sie auf die Probleme anderer Menschen einging. Sie glaubte aber auch, dass Lindsay in persönlichen Dingen sehr zurückhaltend sein konnte.
Ruths Gedanken wurden unterbrochen, als sich die Studiotür wiederum öffnete.
Dieses Mal kam ihr Onkel herein.
Wieder beobachtete Ruth die Begrüßungszeremonie. Der kurze Blickwechsel zwischen ihrem Onkel und Lindsay war ihr nicht entgangen. So schnell er vorüberging, so sehr offenbarte er die besondere Beziehung der beiden zueinander. Ruth war überrascht. Davon hatte sie nichts gewusst.
Das wird ja immer komplizierter, dachte sie. Monika ist verliebt in Andy, Andy in Lindsay und Lindsay in Onkel Seth. Da Onkel Seth ebenfalls in Lindsay verliebt zu sein scheint, schließt sich der Kreis. Seltsam, überlegte sie, keiner scheint sich dieser Situation bewusst zu sein, dabei ist sie doch gar nicht zu übersehen.
Schon als Kind hatte sie in den Blicken, die ihre Eltern miteinander tauschten, deren Liebe zueinander erkannt.
Der Gedanke an ihre Eltern erwärmte sie, stimmte sie aber gleichzeitig traurig, weil sie nie mehr Teil ihrer Liebe sein konnte.
Ohne ein Wort zu sagen, ging sie ins Ankleidezimmer und zog ihre Spitzenschuhe aus.
Der Anblick Seths war für Lindsay wie ein Schock. Es war, als würde sie von einer Flutwelle überspült und dann kraftlos zurückgelassen. Ihre Beine schienen sich unterhalb der Knie ins Nichts aufzulösen.
Nein, die Anziehungskraft ist nicht geringer geworden. Ich habe mir etwas vorgemacht, gestand sie sich ein, sie ist stärker als je zuvor.
Im Bruchteil einer Sekunde grub sich sein Bild in ihr Bewusstsein ein – sein
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