Die schöne Ballerina (German Edition)
windzerzaustes Haar, die Art und Weise, wie er die Lammfelljacke trotz der Kälte offen trug, seine Augen, mit denen er sie zu verschlingen schien, als er hereinkam. Selbst wenn sie sich besondere Mühe gegeben hätte, außer Seth noch etwas anderes wahrzunehmen, wäre es ihr in diesem Augenblick nicht gelungen. Sie hätte mit ihm auf einer einsamen Insel oder auf dem Gipfel eines Berges sein können.
Ich habe ihn vermisst, erkannte sie. Erst sechsundzwanzig Tage ist es her, seit ich zuletzt mit ihm gesprochen habe. Vor einem Monat wusste ich noch nicht, dass es ihn gibt, und nun denke ich zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten an ihn.
Ohne dass sie sich dessen bewusst war, erhellte sich ihr Gesicht zu einem Lächeln, und obgleich es von Seth nicht erwidert wurde, trat sie ihm mit ausgestreckten Händen entgegen.
»Hallo! Ich habe dich lange nicht gesehen. Du hast mir sehr gefehlt.«
»Wirklich?« Er sah sie fragend an.
Sein Tonfall erinnerte Lindsay daran, dass sie ihm gegenüber vorsichtig sein sollte. »Ja«, gab sie dennoch zu, entzog ihm aber ihre Hände. »Du kennst Monika und Andy schon, nicht wahr?«
Monika stand noch am Klavier und legte Noten zusammen. Lindsay sah auf die Uhr und bat sie, alles stehen und liegen zu lassen.
»Kümmre dich nicht weiter drum«, sagte sie. »Du und Ruth müsst ja schon fast verhungert sein. Und wenn ihr noch rechtzeitig ins Kino kommen wollt, solltet ihr euch wirklich beeilen.«
Ich tue ja gerade so, als könnte ich sie nicht schnell genug loswerden, schalt sie sich innerlich und nahm sich vor, nächstens zu denken, bevor sie redete.
Sie winkte der letzten Schülerin, die das Studio verließ, verabschiedend zu und fragte Andy: »Hast du schon gegessen, Andy?«
»Eigentlich nicht. Deshalb bin ich vorbeigekommen. Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, mit mir einen Hamburger essen zu gehen.«
»Oh Andy, wie lieb von dir. Aber ich habe noch viel zu tun heute Abend. Monika und Ruth hatten mich auch schon eingeladen. Warum gehst du nicht mit ihnen eine Pizza essen?«
»Ja! Das wäre schön, Andy«, rief Monika begeistert und wurde noch röter. »Wir würden uns sehr freuen, nicht, Ruth?«
Ruth sah die freudige Erwartung in Monikas Augen und nickte. »Du bist doch nicht etwa meinetwegen gekommen, Onkel Seth?«, wandte sie sich dann an ihren Onkel, während sie sich anzog.
»Nein.« Seth sah den Kopf seiner Nichte in einem dicken wollenen Pullover verschwinden und am Ausschnitt wieder hervorkommen. »Ich wollte ein paar Worte mit deiner Lehrerin sprechen.«
»Dann sollten wir machen, dass wir hier wegkommen.« Monika bewegte sich mit einer für ein so großes Mädchen außergewöhnlichen Anmut, die zum Teil sicherlich auf ihren eigenen Ballettunterricht vor dem Studium zurückzuführen war. Jetzt griff sie nach ihrem Mantel und sah Andy an.
Ihr Lächeln war weniger zurückhaltend als zögernd. »Kommst du mit, Andy?« Sie sah den schnellen Blick, den er Lindsay zuwarf.
»Na klar.« Andy legte Lindsay eine Hand auf die Schulter. »Ich seh dich dann morgen.«
»Gute Nacht, Andy.« Lindsay stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen leichten Kuss. »Viel Vergnügen!« Letzteres galt für alle drei.
Andy und Monika gingen zur Tür, beide mit bedrückter Miene. Ruth schlenderte hinter ihnen her. Ein wissender Ausdruck lag in ihren Augen.
»Gute Nacht, Onkel Seth, gute Nacht, Miss Dunne.«
Lindsay starrte auf die geschlossene Tür. Sie fragte sich, was dieser seltsame Ausdruck in Ruths Augen wohl bedeutet hatte. War es Schadenfreude?
Es soll mir recht sein, solange sie sich nur über irgendetwas freut, dachte Lindsay. Aber weshalb sollte Ruth schadenfroh sein? Sie schüttelte den Kopf und wandte sich Seth zu.
»So, dann werden wir uns also heute über Ruth unterhalten. Ich habe mir gedacht …«
»Nein.«
»Nein?«, wiederholte sie verblüfft. Dann machte Seth einen Schritt auf sie zu, und sie verstand.
»Wir sollten aber doch über Ruth sprechen«, versuchte sie es noch einmal und drehte ihm den Rücken zu, sodass sie ihn in der Spiegelwand beobachten konnte. »Sie ist so viel weiter als alle anderen Schülerinnen, viel talentierter und viel ehrgeiziger. Ruth ist zum Tanzen geboren, Seth. Sie wird es weit bringen.«
»Kann sein.« Lässig zog er seine Jacke aus und legte sie auf das Klavier.
Instinktiv begriff Lindsay, dass es heute Abend nicht leicht sein würde, mit ihm fertig zu werden. Ihre Finger zupften nervös an dem Knoten in ihrer
Weitere Kostenlose Bücher