Die schöne Betrügerin
sprach zu ihnen – tagein, tagaus.
So lautete ihre Anweisung, die sie niemals missachtete. Sie hatte es sich sogar zur Aufgabe gemacht, sich in die Thematik einzulesen. Es gab Vermutungen, wonach das regelmäßige Bewegen der Gliedmaßen dem Muskelschwund Einhalt gebieten könne, und sie hatte mit Mr. Cunningtons Erlaubnis sofort ein entsprechendes Programm begonnen.
Es war ihr Lohn genug, dass sie auf den Wangen ihres »jungen Mannes«, wie sie ihn nannte, ein wenig mehr Farbe zu sehen bekam. Sein Name war Lawrence, aber man hatte sie in der Hoffnung, er werde antworten, angewiesen, Ren zu ihm zu sagen.
Sie eilte an sein Bett und ließ einen winzigen Lichtstrahl auf ihn fallen. Ja, er sah schon viel besser aus. Die schrecklichen Kratzer und Schwellungen in seinem Gesicht hatten sich während der letzten sechs Wochen sichtlich gelegt, und die Narben würden bald verblassen. Er war so jung und gut« aussehend mit seinem lockigen Haar. Und so schwer mitgenommen…
Sie drehte sich um und trat an das andere Bett. Der arme X Mr. Weatherby. Er erinnerte sie an ihren geliebten Frederick, Gott sei seiner Seele gnädig.
Angus Weatherby war auf dem Kopfsteinpflaster unterhalb seines Schlafzimmers im vierten Stock gefunden worden. Er hatte nur die Verletzung, die er sich am Kopf zugezogen hatte, als er auf den alten Pflastersteinen der Straße aufgeschlagen war.
Man hatte ihr gesagt, sie solle ihn Angus nennen, doch sie schaffte es nicht, einen Gentleman ihres Alters so vertraulich anzusprechen. Also nannte sie ihn Mr. Weatherby und Sir; manchmal hielt sie sogar seine Hand und erinnerte ihn an all die sonderbaren oder wundersamen Zeiten, die England im Lauf der letzten fünfzig Jahre gesehen hatte, und lud ihn ein, sie zu begleiten und mit ein paar neuen Tagen Bekanntschaft zu machen.
Doch er antwortete nie, ihr vornehmer silberhaariger Gentleman-Freund, und sie begann die Hoffnung aufzugeben. Sein Gesicht war eingesunken und fahl, und er schien von Tag zu Tag flacher zu atmen und an Boden zu verlieren.
Eine Träne trat in ihr Auge, als sie sich vorbeugte und einen verbotenen Kuss auf Mr. Weatherbys Stirn drückte. Der Himmel würde ihr, einer alten Frau, die Flausen schon vergeben, so hoffte sie.
Ihr Blick verschwamm vor Tränen, und sie hielt die Kerze immer noch sorgsam abgedunkelt, weswegen der Himmel ihr auch vergeben würde, dass sie ein winziges, kurzlebiges Ereignis übersah. Auf der Decke des anderen Betts ruhte eine schlaffe, offene Hand, deren Finger sich schon seit vielen Wochen nicht mehr bewegten, wie ihr Eigentümer es ihnen befahl.
Doch während Mrs. Neely um alles, was hätte sein können, trauerte, machte sich bei dem anderen Patienten ein Anflug von Zukunft breit. Zwei seiner Finger vollbrachten eine schnipsende Bewegung, als wollten sie ihre Aufmerksamkeit erregen.
Sie überhörte den Ruf, doch alles war gut. Den nächsten würde sie mitbekommen.
Phillipa ging ruhelos in ihrem Zimmer auf und ab. Eigentlich hätte sie nach all den Monaten, in denen sie schlecht geschlafen hatte, etwas an Bettruhe nachholen sollen, aber sie war viel zu verwirrt, um sich für die Nacht umzukleiden. Sie hatte ein Problem.
Warum konnte James Cunnington nicht offensichtlich boshaft sein, mit einem rattenartigen Gesicht und einem Benehmen, dem man den schlechten Charakter anmerkte.
Oder gütig und alt, mit engelsgleichen blauen Augen und weißem Haar? Warum musste er so… so…
Sie setzte sich abrupt auf den Stuhl am Kamin und bedeckte Gesicht mit den Händen. So männlich. So breit und warm, so unpassend unerträglich hinreißend. Ihr ganzes behütetes Leben lang hatte sie nie derart auf einen Mann reagiert. In seiner Gegenwart vermochte sie kum noch Atem zu holen.
Sie lehnte sich seufzend zurück und streckte die Beine in Richtung Feuer. Es war schön, sich als Mann solche Freiheiten gestatten zu können. Sie konnte sich ungestraft auf einen Stuhl plumpsen lassen, sich strecken und natürlich
kratzen.
Eine Lady durfte nichts dergleichen.
Eine Lady durfte sich nicht ins Gesicht fassen oder in Anwesenheit anderer ihre Kleider richten. Eine Lady durfte nie mit dem Rücken die Stuhllehne berühren. Himmel, wozu gab es sie dann überhaupt?
Sicher, eine Lady hatte auch gewisse Möglichkeiten, so subtil sie auch waren. Eine Lady beherrschte die Sprache des Fächerns und konnte ihre Attraktivität mit den kleinsten Gesten unterstreichen. Sie konnte ganz zart mit den Wimpern klimpern, sich ein klein wenig Vorbeugen,
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