Die Schöne des Herrn (German Edition)
seines Geistes könne sie es nicht! Oh, Verzeihung, Verzeihung! Zuckend klammerte sie sich an den Arm des verwirrten kleinen Alten, schloss die Augen und war der Ohnmacht nahe.
»Oh, ich fühle mich nicht wohl, Verzeihung, geben Sie mir bitte mein Riechsalz, das Fläschchen in meiner Handtasche, auf dem Tischchen im Vestibül, Verzeihung, ein kleines Fläschchen, Verzeihung, auf dem Tischchen, das Fläschchen, Verzeihung, Tischchen, Fläschchen.«
Nachdem sie genug von Fläschchen und Tischchen gefaselt und an der kleinen grünen Flasche gerochen hatte, kehrte sie ins Leben zurück und schenkte Herrn Deume, der finster auf seine Suppe starrte, das Lächeln eines genesenden Engels. (»Ich frage mich, ob es Gottes Wille ist, dass ich wegen ihrer Beterei meine Suppe immer kalt essen muss.«) Aus Höflichkeit schlug Frau Deume der lieben Emmeline vor, das Tischgebet zu sprechen. Mit gebrochener Stimme erwiderte Frau Ventradour, das würde sie nicht tun, diese große Freude wolle sie ihrer lieben Antoinette überlassen, und versicherte ihr, sie könne sehr wohl darauf verzichten, das Tischgebet zu sprechen. Jedes Mal, wenn diese Person versicherte, sie könne sehr wohl, musste man es ins Gegenteil übersetzen. So hoffte sie auch jetzt, dass Frau Deume die Höflichkeit erwidern und sie bitten würde, das Gebet zu sprechen. Aber die liebe Antoinette tat es nicht, denn die liebe Emmeline hatte die lästige Angewohnheit, endlose Tischgebete zu sprechen, wahre Predigten, in denen sie all ihre kleinen Kümmernisse des Tages auspackte und das Ganze mit Seufzern und anderen anmutigen Geräuschen garnierte. Und so richtete sie ihre große spitze Nase auf die grüne Erbsensuppe und schloss die Augen. Frau Ventradour wagte ihrerseits den Sprung ins Mystische, während der alte Deume den Kopf in beide Hände stützte, um sich besser konzentrieren zu können, da es ihm schwerfiel, an diesen ewigen Gesprächen mit Gott Gefallen zu finden. (»Am Sonntag geht es noch, da gefällt es mir sogar, aber dreimal am Tag, nein!«) Er konzentrierte sich, der unglückliche Kerl, und unterdrückte ein starkes Verlangen, sich den Nacken zu kratzen, konzentrierte sich, starrte jedoch durch die gespreizten Finger auf die nicht mehr dampfende Suppe, die inzwischen bestimmt lauwarm geworden war. (»Herrssaftszeiten, ich bin sicher, dass Gott sich auch um uns kümmert, ohne dass wir Ihn sständig darum bitten müssen, außerdem weiß Er doch alles, also warum sollen wir Ihn ständig anöden und Ihm alles erklären?«)
Frau Deume, die sich fachmännisch beobachtet fühlte, sprach ein erstklassiges Gebet, während sich ihre Fleischkugel rhythmisch hob und senkte. Nach zwei Minuten streckte Herr Deume heimlich seinen Zeigefinger aus und berührte den Teller, um die Temperatur zu prüfen. Auch Frau Ventradour wurde ungeduldig, ohne recht zu wissen, warum. Diese alte Heuchlerin, die einen mit Gebeten von einer halben Stunde nervte, fand die der anderen stets zu lang. Frau Deume berichtete dem Ewigen gerade von den großen Schwierigkeiten Juliette Scorpèmes, und die stets spontane Frau Ventradour stieß einen kleinen Tragödinnen-Schrei aus und griff sich ans Herz. Die liebe Juliette war in Schwierigkeiten? Wie schrecklich! Und sie wusste nichts davon!
»Oh, Verzeihung, meine Liebe, Verzeihung, fahren Sie fort.«
Sie schloss erneut die Augen und bemühte sich zuzuhören, aber ein Gedanke kam ihr immer wieder in den Sinn, nämlich, dass sie nicht vergessen durfte, sich zu erkundigen, worin Juliettes Schwierigkeiten bestanden. Endlich gelang es ihr, diese profane Besorgnis zu verscheuchen, sie schloss die Augen fester und versuchte, das, was die Betende sagte, in sich aufzunehmen. Allerdings konnte sie nicht umhin zu finden, dass die arme Antoinette nicht sehr gewandt in ihren Formulierungen war. Ihren Gebeten fehlte gerade das, was Frau Ventradour so liebte, das Spontane, das Unerwartete, die pikanten Wendungen. Ihr religiöser Gaumen war übersättigt, und sie brauchte ständig neue Gewürze. So wechselte sie zum Beispiel alle fünf Jahre die Bibel, um immer wieder das Vergnügen zu haben, die erbaulichen Stellen neu zu unterstreichen und dabei überzeugt mit dem Kopf zu nicken. Im Grunde war es so, dass diese tägliche Religion Frau Ventradour schon seit langem langweilte, ohne dass sie es sich, natürlich, eingestand. Und daher suchte sie immer wieder in der ersten Predigt eines frischgebackenen Pastors, in der Ansprache eines schwarzen Predigers oder
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