Die Schöne des Herrn (German Edition)
Taschentücher, tupft sich die von den Tränen geschwollenen Augenlider ab, zermartert sich das Hirn und erfindet bei jedem Taschentuch eine neue Hypothese. Warum ist er nicht gekommen? Ist er krank? Liebt er mich weniger? Ist er bei dieser Frau? Oh, sie ist ein geschicktes Luder, sie schmeichelt ihm! Und natürlich mit all den Haute-Couture-Kleidern, die sie sich leisten kann! Oh, er ist bestimmt bei ihr! Und gestern sagte er mir noch … O es ist einfach ungerecht, wo ich ihm doch alles geopfert habe! Und so weiter, die ganze Leier des gebrochenen Herzens. Und am nächsten Tag schluchzt sie an deiner Schulter und sagt: ›Mein böser Liebling, ich habe die ganze Nacht geweint. Oh, verlass mich nicht, ich kann ohne dich nicht leben.‹ So, das ist die schmutzige Arbeit, zu der sie dich zwingt, wenn du eine absolute Leidenschaft haben willst!
Und Vorsicht, Nathan, lass dich ja nicht zu deiner angeborenen Güte verleiten, wenn du sie so tränenfeucht und völlig am Boden zerstört vor dir siehst. Verzichte nie auf die Grausamkeiten, welche die Leidenschaft beleben und ihr aufs neue strahlenden Glanz verleihen. Sie wird es dir vorwerfen, aber sie wird dich lieben. Solltest du unglücklicherweise jemals die Dummheit begehen, nicht mehr böse zu sein, so würde sie es dir nicht vorhalten, aber sie würde anfangen, dich weniger lieben. Erstens, weil du deinen Reiz verlieren würdest. Zweitens, weil sie sich mit dir langweilen würde, wie mit einem Ehemann. Wohingegen man mit einem bösen Geliebten nie gähnt, man beobachtet ihn und hofft auf gute Laune, man macht sich schön, um Gnade zu finden, man blickt ihn mit flehenden Augen an und man hofft, dass er morgen nett sein wird. Kurz, man leidet, und das ist interessant.
Und wirklich, am nächsten Tag ist er ganz zauberhaft, und das ist ein Paradies, das man schätzt, das jeden Augenblick schön ist und in dem nicht die blassen Blumen der Langeweile wachsen, weil man jeden Augenblick fürchten muss, dass es wieder verschwindet, dieses Paradies. Kurz, ein abwechslungsreiches, stürmisches Leben. Sturmböen, Zyklone, plötzliche Windstille, Regenbögen. Sie soll ihre Freude haben, gewiss, aber häufiger soll sie leiden. Und so bastelt man sich eine hingebungsvolle Liebe zusammen.
Das Schreckliche, mein lieber Nathan, ist, dass diese zu einem so schmutzigen Preis erkaufte hingebungsvolle Liebe das Wunder der Welt ist. Aber derjenige, der hingebungsvoll geliebt sein will, schließt einen Pakt mit dem Teufel, denn er verliert seine Seele. Sie haben mich gezwungen, Bösartigkeit vorzutäuschen, und das werde ich ihnen nie verzeihen! Aber was sollte ich tun? Ich brauche sie, sie, die so schön sind, wenn sie schlafen, brauche ihren Milchbrötchenduft, wenn sie schlafen, brauche ihre reizenden Päderastengesten, brauche ihre Scham, die so rasch den erstaunlichsten Bereitwilligkeiten im Halbdunkel der Nächte weicht, denn nichts überrascht oder erschreckt sie, wenn es um Liebesdienste geht. Ich brauche ihren Blick, wenn ich komme und sie mich erwartet, rührend auf der Schwelle und unter den Rosen. O Nacht, o Glück, o Wunder ihres Kusses auf meiner Hand! (Er küsste sich die Hand und blickte diese Frau an, die ihn betrachtete, lächelte ihr aus tiefster Seele zu.) Und außerdem und vor allem, o Brot der Engel, brauche ich diese geniale Zärtlichkeit, die sie nur schenken, wenn sie in Leidenschaft entbrannt sind, in dieser Leidenschaft, die sie nur den Bösen schenken. Also Grausamkeit, um Leidenschaft zu erkaufen, und Leidenschaft, um Zärtlichkeit zu erkaufen!«
Er spielte mit einem damaszierten Dolch, ein Geschenk von Michael, legte ihn wieder auf den Tisch neben die Rosen, blickte die junge Frau an und war vor Mitleid gerührt. Strotzend vor junger Kraft, prachtvoll mit ihrer straffen hohen Gestalt, und doch bald reglos unter der Erde, und dann würde sie nie mehr teilhaben an den Freuden des Frühlings, nie mehr die ersten erblühten Blumen sehen, das Zwitschern der Vögel in den Bäumen hören, dann würde sie an nichts mehr teilhaben, steif und einsam in ihrer erstickenden Kiste, mit so wenig Luft in der Kiste, deren Holz bereits existierte, irgendwo existierte. »Geliebte, meine Verurteilte«, flüsterte er. Er öffnete eine Schublade, nahm einen hübschen kleinen Samtteddybär mit Sporenstiefeln, mexikanischem Hut und einem schönen melancholischen Gesicht heraus. Er reichte ihn ihr. Sie schüttelte den Kopf und dankte kaum hörbar.
»Schade«, sagte er, »es kam von
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