Die Schöne des Herrn (German Edition)
Briefes las, das sie für durchaus gelungen hielt (»Ich schmiege mich an Sie und spüre im gleichen Rhythmus unsere Herzen aneinanderschlagen«), holte sie tief Atem, zufrieden mit ihrem Kunstwerk. Wirklich gut, dieser Einfall, die beiden Herzen, die aneinanderschlagen. Das wäre der Gräfin nicht eingefallen. Gott sei Dank ist sie in ihrem Ungarn. Und die Inversion »im gleichen Rhythmus unsere Herzen aneinanderschlagen« war auch nicht schlecht. Plötzlich biss sie sich auf die Lippe. Das war ja überhaupt nicht möglich, diese Sache mit den beiden Herzen, denn er sollte ja ihr gegenüber sein! Sein Herz, das links ist, befindet sich also zwangsläufig an meiner rechten Seite, also an meiner Leber und nicht an meinem Herzen. Mein Bild ergäbe nur dann einen Sinn, wenn sein Herz rechts wäre, da meins links ist. Und das ist unmöglich, schließlich ist er normal. Was tun? Es in einem Telegramm richtigstellen? Nein, das würde komisch wirken. Oh, ich mache nur Blödsinn! Um besser nachdenken zu können, schob sie mit dem Daumen ihre Nasenspitze nach oben und gelangte zu einem beruhigenden Schluss. Ja, grundsätzlich kann man annehmen, dass er mir nur teilweise gegenübersteht, ja, so ist es, er schmiegt sich an mich, aber er hält mich sehr seitlich, so dass meine linke Seite seine linke Seite berührt, also Herz an Herz, das ist keine unmögliche Stellung. Jedenfalls lässt es sich vertreten. Machen wir uns also keine Sorgen. Als sie ihren Teddybären auf dem Betstuhl knien sah, schimpfte sie ihn einen kleinen Heuchler und setzte ihn in einen Sessel. »Was? Du willst mit mir schlafen? Nein, mein Schatz, das geht nicht mehr, seit der Monsieur da ist. Wirklich, es wäre mir peinlich. Du hast es sehr bequem in diesem Sessel. Also entspann dich, gute Nacht, schlaf gut.«
Dreimal am Tag, lange vor der Ankunft des Briefträgers, war sie auf der Straße und wartete. Hatte er keinen Brief von dem Abwesenden, schenkte sie dem Briefträger tiefbekümmert ein liebenswürdiges Lächeln. Gab es einen Brief, öffnete sie ihn auf der Stelle und überflog ihn. Eine oberflächliche Lektüre. Sie hinderte sich daran, ihn richtig zur Kenntnis zu nehmen, wollte ihn noch nicht in sich aufnehmen. Es ging ihr nur darum, sich zu vergewissern, dass kein Unheil geschehen war, dass er nicht krank war, dass seine Rückkehr nach Genf sich nicht verzögern würde. Das richtige Lesen sparte sie sich für später auf, im Haus. Beruhigt lief sie zur Villa und zur richtigen Lektüre, lief mit leicht wippenden Brüsten, lief und zwang sich, ihr Glück nicht laut hinauszuschreien. »Liebling«, flüsterte sie dem Brief oder sich selbst zu.
In ihrem Zimmer die übliche Zeremonie. Abgeschlossene Tür, geschlossene Fensterläden, zugezogene Vorhänge, Wachskugeln, um die Geräusche von draußen zu bannen, all die Geräusche der Nicht-Liebe. Sie knipste die Nachttischlampe an, legte sich aufs Bett und richtete das Kopfkissen. Nein, noch nicht lesen, das Vergnügen verlängern. Zunächst einmal den Umschlag betrachten. Ein schöner, fester Umschlag, und Gott sei Dank innen nicht gefüttert. Sehr gut. Und die Briefmarke hatte er sorgfältig aufgeklebt, nicht einfach irgendwie, ganz gerade, genau an der richtigen Stelle, also mit Liebe. Ja, das war ein Liebesbeweis. Sie betrachtete den Brief mit einigem Abstand, ohne ihn zu lesen. Genauso hatte sie als kleines Mädchen ihren Butterkeks angeschaut, bevor sie ihn gegessen hatte. Nein, ihn nicht lesen, noch warten. Ich habe ihn in meinen Händen, aber ich darf ihn erst lesen, wenn ich es vor Verlangen nicht mehr aushalte. Schauen wir uns einmal die Adresse an. Er hat an mich gedacht, als er meinen Namen schrieb, und da er auch Madame schreiben musste, was ehrbarer und anständiger klingt, hat er sich mich im Kontrast dazu vielleicht nackt vorgestellt, so schön, wie er mich von allen Seiten kennt. Und jetzt schauen wir uns das Papier an, aber von der unbeschriebenen Seite. Sehr schönes Papier, japanisch vielleicht. Nein, das Papier riecht nach nichts. Es riecht sauber, absolut sauber, ein männliches Papier, genau.
Plötzlich ertrug sie es nicht länger. Und jetzt folgte eine sorgfältige und langsame Lektüre, ein Studium des Briefs, mit Pausen, um nachzudenken, um sich alles zu vergegenwärtigen, die Augen geschlossen und auf den Lippen ein leicht idiotisches, leicht göttliches Lächeln. Um die zärtlichsten oder leidenschaftlichsten Worte hervorzuheben, bedeckte sie manchmal den Bogen mit beiden
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