Die Schöne des Herrn (German Edition)
Taschentuch. Das war das Leben, dieser Rotz. Der Drang zu urinieren. Es funktionierte also immer noch. Sie berührte ihren Bauch, ihren armen Leib, der immer noch seine Lebenspflichten erfüllte und den sie bald nicht mehr würde berühren können. Gegenüber zwei Verliebte. Küss nur, küss nur, du Idiotin, du wirst schon sehen. Mit leidenschaftlicher Ergebenheit, schwanzwedelnd blickte Boulinou sie beharrlich an und hoffte auf ein zärtliches Wort. Da das Wort nicht kam, sprang er auf die Bank, setzte sich neben sie und schmiegte sein Schnäuzchen in ihre Armbeuge. »Mein Liebling«, sagte sie zu ihm.
In ihrem Zimmer im Noailles. Eben hat der Oberkellner eine kalte Platte heraufgebracht. Schinken, Huhn, Roastbeef. Der Basset hockt brav auf seinem Stuhl, feierlich, aufmerksam, andächtig, ganz artig, um sich etwas von diesen Wundern zu verdienen, deren Duft ihm in die Nase steigt und die er mit seinen gläubigen Augen anstarrt. Abwechselnd blickt er die wichtige Dame und das Fleisch mit respektvoller Hingabe an und hat Angst, nicht vorbildlich genug zu sein, tänzelt jedoch ein wenig mit den Vorderpfoten, um wohlerzogenen, wenn auch heftigen Hunger zu manifestieren. Was soll das denn, gibt sie ihm etwa nichts? Dass sie nichts isst, schön, das ist ihre Sache, aber dass sie ihm nichts gibt, ist unerhört, wo er doch solchen Hunger hat! Mit der rechten Pfote deutet er eine Bitte an, nach besten Kräften sein Verlangen unterdrückend, sich selbst zu bedienen, denn er will ja einen guten Eindruck machen. Aha, sie hat begriffen, es ist auch höchste Zeit! Er schnappt nach der Schinkenscheibe, die sie ihm reicht, und verschlingt sie im Handumdrehen. Dito mit drei weiteren Schinkenscheiben. Es wird ein bisschen eintönig. Dieser Frau fehlt es an Phantasie. Er streckt eine Pfote vor und dann die andere, und blickt sie fest an, um ihr zu verstehen zu geben, dass er sich durchaus auch für das Huhn und das Roastbeef interessiert. Sie klingelt. Der Oberkellner tritt ein und nimmt das Tablett fort. Boulinou beschwört sie entsetzt mit Blicken, tänzelt aufgeregt. He, Monsieur, das Roastbeef, und vor allem das Huhn habe ich besonders gern! Das kann man mir doch nicht antun! Was hat diese Frau nur? So was hab ich noch nicht erlebt! Na ja, sei’s drum, sie ist das Frauchen. Jetzt blickt er sie an und winselt diskret. Zu fressen hat er gehabt, vielen Dank, aber seine Seele ist noch unbefriedigt. Er will gestreichelt werden, wozu ist denn sonst das Leben gut? Man lebt nicht nur von Schinken. Er stellt sich auf die Hinterbeine und stützt sich mit den Vorderpfoten auf die liebe Dame. Sie weicht zurück. Sie hat nur noch einen Hund, der sie liebt. Sie schließt ihn im Badezimmer ein.
Sie schreckte aus dem Schlaf, blickte auf den Kronleuchter, der immer noch brannte, und erinnerte sich an den Basset, den sie gestern Abend in dem Geschäft gekauft hatte. Benommen richtete sie sich auf, setzte sich auf den Bettrand und erblickte sich im Spiegel des Schranks, vollständig angezogen, der Hut seitlich verrutscht. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte sieben. Liegen bleiben, ja. Ein Bett war immer etwas Angenehmes, selbst im Unglück. Trotzdem erhob sie sich kurz darauf und zog die Vorhänge zurück. Draußen das Leben, die Glücklichen. Nicht schön, diese Alte im Spiegel, mit den geschlitzten Augen und den vorstehenden Backenknochen, dem trockenen Haar, den plombierten Zähnen, sogar eine Brücke hinten. Das Wochenende in Ouchy, das war ganz am Anfang ihrer Liebe gewesen. Am Sonntagnachmittag waren sie am See spazieren gegangen, und sie hatte sogar gewagt, ihm einen Kuss zu verweigern, war lachend davongelaufen. Jetzt war sie eine verrückte Alte, ganz allein in Marseille, die mit dem Hut auf dem Kopf eingeschlafen war. »He, du Drecksgott«, sagte sie laut.
Sie nahm den Hut ab, setzte sich an den Tisch, faltete einen Briefbogen des Hotels einmal und dann ein zweites Mal, faltete ihn wieder auseinander, nahm ihren Füllfederhalter und schraubte die Kappe ab. Ja, einen Brief für ihn hinterlassen, ihm sagen, er müsse sich keine Vorwürfe machen, ihn treffe keine Schuld, er habe das Recht, glücklich zu sein. Nein, keinen Brief, das könnte ihn kompromittieren. Sie öffnete die Tablettenschachtel, zählte, nahm ihren Füllfederhalter, zeichnete ein Kreuz, das sie in eine Raute umwandelte, die sie mit Zacken versah, und spürte plötzlich, dass sie wieder Geschmack am Leben fand. Aber ja, die Lösung war, in die Schweiz zurückzukehren,
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