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Die Schöne des Herrn (German Edition)

Die Schöne des Herrn (German Edition)

Titel: Die Schöne des Herrn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Cohen
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geführt, wie ein Lamm zur Schlachtbank. Kaum materielle Bedürfnisse, und doch bewohnt er eine schöne Villa. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Als letzter männlicher Nachkomme der Aubles glaubt er, es seinem Namen schuldig zu sein, in einem seiner Ahnen würdigen Rahmen zu leben. Das ist eine kleine Schwäche, aber welcher Heilige hat keine Schwächen?
    Ich vergaß zu sagen, dass er Träger der Ehrenlegion und anderer Orden ist. Trotz dieser Ehren, um die er sich nie bemüht hat, ist er sehr schüchtern, besonders Wichtigtuern gegenüber. Es ist ein Gedicht, ihn die Hand reichen zu sehen, wenn man ihm jemanden vorstellt. Zögernd, den Ellbogen an den Körper gepresst, reicht er die Hand, als ob man sie ihm gleich in siedendes Öl tauchen würde. Oft erinnert er mich an ein verlorenes Kind, und obwohl er keineswegs die Erscheinung und die Selbstsicherheit eines großen Arztes hat, ist er einer und wird von seinen Kollegen sehr respektiert. Er hat irgendetwas sehr Wichtiges entdeckt, das sogenannte d’Auble-Syndrom. Die Pariser Akademie der Wissenschaften hat ihn zu ihrem korrespondierenden Mitglied ernannt, was, wie es scheint, für einen ausländischen Arzt eine große Ehre ist. Und sobald seine Rückkehr nach Genf bekannt wurde, widmete ihm das
Journal de Genève
einen sehr lobenden Artikel.
    Ich habe mich wieder an den Tisch gesetzt, weil mir der Nacken vom Schreiben auf dem Bauch wehtat. Geliebter, ich sehne mich nach Ihnen. Geliebter, wir werden zusammen reisen, nicht wahr? Ich möchte mit Ihnen die Länder sehen, die ich liebe. Wir werden zum Beispiel nach England fahren, in die Gegend von Norwich. Dieses weite Land wird Ihnen gefallen, der weite Horizont, die starken Winde, die Wälder mit den Kathedralenalleen, die von Farnkraut überwachsenen sanften Hügel und dahinter das Meer. Wir werden durch die tiefen Wälder streifen, ganz leise über das dicke Moos gehen, und die Fasane werden vor uns aufflattern und die Eichhörnchen von den Bäumen klettern. Und wir steigen auf die höchste Klippe über dem Meer, und der Wind peitscht uns ins Gesicht, und wir halten uns bei den Händen.
    Jetzt komme ich auf meinen Onkel zurück. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass er Präsident des protestantischen Kirchenrats und Vizepräsident der Nationaldemokratischen Partei, der Partei der ehrbaren Bürger, gewesen ist. Er ist zutiefst gläubig, und ich respektiere seine Frömmigkeit, weil sie echt und edel ist. Ganz das Gegenteil der falschen Frömmigkeit der alten Deume. Ich werde Ihnen erklären, warum er nach Afrika gegangen ist. Vor einigen Jahren, als er hörte, dass in Sambesi Mangel an Missionsärzten herrschte, beschloss er, dorthin zu gehen und sich ehrenamtlich der evangelischen Mission zur Verfügung zu stellen. In seinem Alter und bei seiner schwachen Gesundheit hat er eine hohe ärztliche Position einfach aufgegeben, um die Schwarzen zu pflegen und ihnen, wie er es in seiner lieben Sprechweise nennt, die frohe Botschaft zu bringen.
    Wenn ich den Mut aufbrächte, meinem Onkel zu sagen, dass ich Sie kenne und dass ich Sie sehr oft sehe, bin ich sicher, dass er keinerlei Verdacht schöpfen würde. Er würde mich gütig mit seinen blauen Augen anlächeln, die nie etwas Böses vermuten, und mir sagen, er freue sich für mich, dass ich diese ›gute männliche Freundschaft‹ gefunden habe. Gerade deshalb werde ich nicht den Mut haben, ihm von Ihnen zu erzählen. Er ist nicht dumm, ganz im Gegenteil. Er ist einfach nur engelhaft. Er ist so aufrichtig, dass er nie auf den Gedanken kommen würde, ich könnte ihm die Wahrheit verheimlichen. Er ist ein wahrer Christ, eine Art Heiliger, so voller guten Willens, so sehr bereit zu lieben und zu verstehen und der andere zu sein; und er hat jede Eigenliebe zerstört, weil er die anderen sich selbst vorzieht. Und so großzügig. Ein Honorar bekommt er nur von den Reichen – nur ihnen schickt er Rechnungen, wenn er daran denkt –, und er behält lediglich, was für seinen bescheidenen Lebensunterhalt unbedingt notwendig ist. Alles, was übrigbleibt, geht an die Armen und an Wohltätigkeitsvereine.
    Als ich klein war, füllte er, wenn er uns bei meiner Tante in Champel besuchte, die Schublade meines Tisches immer heimlich mit einem Haufen kleiner Schokoladentaler, die so gut schmeckten, besonders im Winter, wenn ich sie vorher zum Schmelzen auf die Heizung gelegt hatte. Neulich Abend hat er mich in Cologny besucht. Und als er gegangen war und ich meine Schublade

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