Die Schöne des Herrn (German Edition)
Kommissariat einzufinden, um seine französischen Ausweispapiere und insbesondere seinen Reisepass abzugeben. Er kannte diesen Brief auswendig. Und dann sein Besuch auf dem Kommissariat. Dort hatte man ihn auf einer widerlichen Bank ewig warten lassen, bis ein dickbäuchiger Kommissar sich herabgelassen hatte, ihn zu empfangen. Das vergnügte kleine Lächeln dieses schäbigen Kerls mit schmutzigen Fingernägeln, als er seinen Diplomatenpass betrachtet hatte. Und jetzt hatte er als einziges Papier eine provisorische Aufenthaltsbewilligung und einen Personal- und Reiseausweis für Staatenlose. Er war überhaupt nichts mehr, nur noch ein Liebhaber. Und was machte er jetzt? Er versuchte gegen den Vitaminmangel ihrer Liebe anzukämpfen und quälte eine Unglückliche. Demütig und ergeben respektierte sie wiederum sein Schweigen, sie, die an ihn glaubte, die alles für ihn verlassen hatte, gleichgültig gegenüber dem Urteil der Welt, die nur für ihn lebte, wehrlos und lächerlich in ihrer Anmut und Schwäche, wenn sie nackt durchs Zimmer ging, so schön und doch dem Tod versprochen, starr und bleich in ihrem Sarg. O dieses Gelächter dort unten, dieses Beifallklatschen, dem sie lauschte.
»Ich warte auf die Antwort. Der Krüppel!«
»Aber ich verstehe nicht.«
»Dann erkläre ich es. Wäre ich plötzlich überhaupt nicht mehr schön, würde ich furchtbar hässlich, würde ich infolge einer unerlässlichen Operation plötzlich zum arm- und beinlosen Krüppel, wie wären dann Ihre Gefühle mir gegenüber? Gefühle der Liebe? Ich warte auf die Antwort.«
»Aber ich habe nichts zu antworten. Es ist eine derart absurde Idee.«
Da hatte er es. Aus mit der Ehrfurcht der ersten Zeit. Jetzt war er absurd. Er beschloss, sich den Vorwand dieser Beleidigung zunutze zu machen und zu gehen. Dann würde sie bald ankommen und ihn um Verzeihung bitten, und dann Versöhnung und Wiedervergoldung für ein, zwei Stunden.
»Gute Nacht«, sagte er und stand auf, doch sie hielt ihn zurück.
»Hör zu, Sol, ich muss dir gestehen, dass ich mich nicht sehr wohl fühle, ich habe letzte Nacht nicht geschlafen, machen wir dem Streit ein Ende, denn ich fühle, dass ich nicht die Kraft haben werde, dir zu antworten, ich kann einfach nicht mehr. Hör zu, verderben wir uns nicht den Abend. (Angenommen, wir verderben ihn uns nicht, dann gibt es immer noch dreitausendsechshundertfünfzig andere, die wir uns nicht verderben dürfen, dachte er.) Hör zu, Sol, ich liebe dich nicht, weil du schön bist, aber ich bin glücklich, dass du schön bist. Es wäre traurig, wenn du hässlich würdest, aber hässlich oder schön, du wirst immer mein Geliebter sein.«
»Warum dein Geliebter, wenn ohne Beine und Zehen? Warum so sehr dein Geliebter?«
»Weil ich dir mein Vertrauen geschenkt habe, weil du du bist, weil du imstande bist, derartig verrückte Fragen zu stellen, weil du mein Besorgter, mein Leidender bist.«
Er setzte sich fassungslos. Der Pfeil hatte gesessen. Verdammt, es war also doch Liebe. Er kratzte sich die Schläfe, schob grimassierend den geschlossenen Mund hin und her, vergewisserte sich der Existenz seiner Nase und befragte sie. Dann trat er ans Grammophon und drehte verträumt die Kurbel. Plötzlich bemerkte er, dass sie sich ohne Widerstand drehte, erinnerte sich an die gesprungene Feder und blickte sich argwöhnisch um. Nein, sie hatte nichts bemerkt. Er räusperte sich, um sich Sicherheit zu geben, und richtete sich wieder auf. Nein, sie log, ohne es zu wissen. Wenn sie glaubte, sie würde ihn auch als abstoßenden Krüppel lieben, so lag das einfach daran, dass er in diesem Augenblick schön, schandbar schön war.
Mein Gott, womit beschäftigte er sich da? Überall in der Welt gab es Freiheitsbewegungen, Hoffnungen, Kämpfe um mehr Glück für die Menschen. Und er, womit beschäftigte er sich? Damit, eine erbärmliche Atmosphäre von Leidenschaft herzustellen, einer Unglücklichen die Langeweile zu vertreiben, indem er sie quälte. Ja, sie langweilte sich mit ihm. Doch im Ritz, am ersten Abend, da hatte sie sich nicht gelangweilt. Oh, wie hatte sie damals im Ritz am ersten Abend vor Glück gestrahlt. Und wer hatte sie so bezaubert? Ein gewisser Solal, den sie nicht kannte. Und jetzt war er ein Mann, den sie kannte, den zuweilen ein ehemännliches Niesen befiel, erst heute Nachmittag nach dem Koitus hatte er geniest, schrecklich vernehmbar geniest in der Stille der Verschnaufpause. Ja, sie hatte ihn im voraus betrogen mit dem Solal
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