Die Schöne des Herrn (German Edition)
im Augenblick läuft es einigermaßen, sagte er sich. Immerhin besser als das Unglück.
***
An einem der letzten Tage im Mai, als der Gong gerade zum Mittagessen gerufen hatte, klatschte er einmal, aber kräftig in die Hände. Das war es. Ferien! Für sie übrigens auch. Er warf seinen Schlafrock auf einen Sessel, zog sich eine Pyjamajacke an, schlüpfte ins Bett, kuschelte sich wohlig unter die Decke und klingelte ihr mit dem verabredeten Zeichen. Sie trat ein und fragte, was er wolle. Er schloss die Augen, wie um einen Schmerz zu kontrollieren.
»Gallenkolik«, murmelte er finster.
Sie biss sich auf die Lippe. Es war ihre Schuld. Das war bestimmt die Languste von gestern Abend, ihre absurde Idee mit der Mayonnaise. Ihre Augen wurden feucht vor Traurigkeit. Ihretwegen musste er jetzt leiden. Sie nahm seine Hand und fragte ihn, ob er große Schmerzen hätte. Er blickte sie mit ausdruckslosen Augen an und fragte sich, was er antworten sollte. Ein nüchternes »ziemlich«, das sehr männlich und nach Jack London klingen würde? Er entschloss sich zu einem stummen, ein wenig hochmütigen Kopfnicken und schloss erneut die Augen, ganz Bild des tapfer ertragenen Schmerzes. Er war begeistert. Jetzt hatten sie zwei oder drei schöne Tage vor sich. Keine Verantwortung mehr für ihn, und für sie eine interessante Beschäftigung. Sie küsste ihm die Hand.
»Soll ich einen Arzt rufen? (Einen Arzt, der vielleicht herausfinden würde, dass er simulierte? Und obendrein ein Mann, der außer dem Lieben noch eine andere Beschäftigung hatte und den sie womöglich bewundern könnte? Er öffnete die Augen und schüttelte den Kopf.) Ich werde Sie pflegen, Liebling, ich kenne mich mit Gallenkoliken sehr gut aus, denn meine Tante hatte oft welche. Das Erste, was zu tun ist, sind Kompressen, aber Sie müssen sie sehr heiß ertragen, nicht wahr? Ich werde Ihnen gleich eine bringen«, sagte sie lächelnd und eilte hinaus.
Während des ganzen Nachmittags lief sie von der Küche in sein Zimmer und brachte ihm unaufhörlich neue Kompressen. Sie verbrühte sich die Finger in ihrem Eifer, sie ihm so heiß wie möglich zu bringen. Sie war rege, lebendig, ganz bei der Sache und hochbeglückt über die Abwesenheit Mariettes, die nach Paris gefahren war, um bei der Hochzeit einer ihrer Nichten dabei zu sein. So konnte sie ihn allein pflegen, ganz nach ihren Vorstellungen. Und er war glücklich, sie glücklich zu wissen. Die viel zu heißen Kompressen verursachten ihm Brandblasen, aber wie herrlich war es doch, ihr einmal kein Liebesfest bereiten zu müssen.
So verlebten sie zwei herrliche Tage, ohne gegenseitiges Lippensaugen, nur mit artigen Küssen auf die Stirn. Sie vergaß, ihn zu siezen, klopfte ihm die Kopfkissen zurecht, brachte ihm Kräutertee und las ihm vor. Und jetzt genoss er es, ihr zuzuhören, denn sie erwartete nichts von ihm und behandelte ihn als Kranken. Er war so zufrieden, dass er manchmal vergaß, die seinem Schmerz angemessenen Grimassen zu schneiden. Sie lief beschwingt umher und war entzückt zu hören, dass es ihm etwas besser gehe. Und er lächelte, wenn er sie in der Küche vor sich hin singen hörte, während sie die schrecklichen Kompressen für ihn bereitete. Gern nahm er die Brandblasen und den Kräutertee und das Fasten, das sie ihm verordnete, in Kauf. Für das Glück, das er ihr schenkte, war das ein geringer Preis.
Am dritten Morgen machte sie sich solche Sorgen wegen dieser Schmerzen, die nicht verschwinden wollten, dass sie ihn anflehte, einen Arzt rufen zu dürfen, und so sehr darauf bestand, dass sie sich schließlich einigten, sie würde am Abend telefonieren, falls keine Besserung eingetreten sei. Er musste sich also in sein Schicksal fügen. Am frühen Nachmittag erklärte er, er sei nun wieder gesund. Das der Liebe geweihte Leben würde vor vorn beginnen, und die Priesterin mit den angespannten Kiefermuskeln würde wieder an die Stelle der fürsorglichen Mutter treten. Adieu Kräutertee und liebe Kompressen.
SECHSTER TEIL
XCII
Er saß in einem der Sessel des Salons, hielt in beiden Händen
La Vie à la campagne
, eine Zeitschrift, die sie abonniert hatte, und betrachtete melancholisch die Köpfe der preisgekrönten Ochsen und Enten. Vorgestern, am 26. August, hatten sie den ersten Jahrestag ihrer Ankunft in Agay gefeiert, mit besonderen Küssen, außergewöhnlichen Blicken, überauserwählten Worten und Luxusmenü. Ein Jahr der Liebe in Agay, ein ganz der Liebe geweihtes Jahr. Sie hatte diese
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