Die schöne Diebin
nicht auf die Idee gekommen, die Katze könne es noch einmal wagen, in sein Haus einzudringen.
Geschafft! Sie stand im Schlafzimmer. Sobald ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, schaute sie sich aufmerksam um. Das Durcheinander, das sie bei ihrem ersten Besuch angerichtet hatte, war beseitigt worden. Mit etwas Glück hatte man auch den Ring an seinen Platz zurückgelegt.
Ja, das war das Kästchen. Sie hob den Deckel und lächelte. Kaum merklich glitzerte der Amethyst im schwachen Mondlicht.
Nora nahm den Ring und spürte zu ihrem Erstaunen, dass ihr Gewissen sich regte. Einen Moment lang schloss sie die Lider und malte sich aus, wie viel Gutes sie tun konnte, wenn sie erst das Geld für das Schmuckstück in Händen hielt. Sie würde den kleinen Timmy Black, der Jüngste in einer Schar von sieben Kindern, bis zum Frühjahr mit Porridge versorgen. Sie würde der Witwe Malone und ihren Kindern warme Decken bringen. Sie würde vielen Familien eine kleine Weihnachtsüberraschung bereiten.
Entschlossen ließ sie den Ring in der Tasche ihrer Hose verschwinden. Stockport würde ihn ja nicht für immer verlieren. Schon bald sollte er Gelegenheit erhalten, ihn zurückzukaufen.
Bei diesem Gedanken besserte Noras Laune sich deutlich. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich vorstellte, wie das geplante Gespräch mit dem Earl verlaufen würde. Sie war fest entschlossen, ihm eine Lektion zu erteilen.
Leise öffnete sie die Tür zum Flur. Nichts war zu sehen oder zu hören. Es würde leicht sein, unbemerkt bis zur Bibliothek zu gelangen. Während sie die Treppe hinunterschlich, flammte erneut Zorn in ihr auf. Stockport nannte ein riesiges Haus sein Eigen. Doch die meiste Zeit des Jahres bewohnte er es nicht einmal. Gleichzeitig gab es nur wenige Meilen entfernt Hunderte von Familien, denen nur ein einziges unbeheiztes Zimmerchen zur Verfügung stand. Und schlimmer noch: Jahr für Jahr wurden infolge von Industrialisierung und Landflucht mehr Menschen obdachlos.
Vor der einen Spaltbreit geöffneten Tür zur Bibliothek blieb Nora stehen und lugte ins Zimmer.
Stockport saß an einem großen Mahagonischreibtisch und schrieb einen Brief. Das Licht mehrerer Kerzen tanzte auf seinem dunklen Haar. Himmel, er sah wirklich gut aus! Schade, dass er ein arroganter, unmoralischer Schuft war, den das Schicksal anderer, weniger begüterter Menschen nicht kümmerte …
In diesem Moment hob er den Kopf. Hinter den Brillengläsern blitzten seine blauen Augen kurz auf.
Er trug eine Brille und schrieb Briefe? Das passte so gar nicht zu dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte. Dabei hatte sie viel über ihn nachgedacht. Sie hatte sich vorgestellt, wie er in London auf Bällen tanzte, flirtete, ausgezeichnet speiste und sich amüsierte. Oder aber, wie er lange Ausritte unternahm und seinen Körper bei Gentleman Jackson trainierte. Jetzt allerdings fiel ihr ein, dass sie gehört hatte, er sei ein Mann, der seine Verantwortung als Landbesitzer sehr ernst nahm.
Der Earl hatte sich dem Brief noch nicht wieder zugewandt.
Er schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Hatte er ihre Anwesenheit gespürt? Angestrengt starrte er zur Tür hin, konnte aber in dem unbeleuchteten Flur nichts erkennen. Jetzt nahm er die Brille ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
„Ist da jemand?“ In seiner Stimme schwang ein stählerner Unterton.
Unwillkürlich trat Nora einen Schritt zurück – nur um sich gleich darauf selbst zu schelten. The Cat war nicht hier, um sich zu verstecken!
Sie vergewisserte sich, dass ihre Halbmaske richtig saß, stieß die Tür auf und trat in die Bibliothek. „Guten Abend, Stockport. Wir haben noch etwas zu erledigen.“
„Sie! Wie sind Sie hereingekommen?“
Seine Überraschung und sein Ärger darüber, dass sie die Wachposten erneut überlistet hatte, waren ihr eine große Genugtuung. Er mochte es nicht, wenn jemand anderes die Kontrolle übernahm.
Sie lächelte ihn an, setzte sich in einen der schweren geschnitzten Stühle, schwang ein Bein über die Lehne und wippte mit dem Fuß.
Unwillkürlich starrte Brandon auf das lange wohlgeformte Bein.
„Ich habe denselben Weg gewählt wie in der letzten Nacht“, sagte Nora. „Das Fenster ist noch nicht repariert. Ich hoffe nur …“, sie neigte den Kopf wie eine im Flirten geübte Frau, „… dass Sie es nicht allen jungen Schönheiten so leicht machen, in Ihr Schlafzimmer einzudringen.“
„Ein kluger Dieb schlägt nicht
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