Die schöne Diebin
zweimal nacheinander am selben Ort zu.“
„Ich bin kein kluger Dieb, sondern eine geniale Diebin, die stets das Unerwartete tut.“
Stockport erhob sich, und einen Moment lang verspürte Nora ein ihr bisher unbekanntes Gefühl der Unsicherheit. Was hatte er vor? Würde er nach seinen Bediensteten läuten? Dann – so viel war klar – würde sie sich in echten Schwierigkeiten befinden.
Doch er goss sich lediglich ein Glas Cognac ein. „Sie meinen also, ich müsste von Ihrer kriminellen Energie beeindruckt sein?“
„Ich weiß, dass Sie beeindruckt sind.“
„Ach?“ Er hob die Brauen. „Wie kommen Sie darauf?“
„Es ist unübersehbar. Wenn Sie mich für eine normale Verbrecherin hielten, hätten Sie schon um Hilfe gerufen und versucht, mich festzunehmen. Übrigens benehmen Sie sich nicht wie der perfekte Gastgeber, als den man Sie im Allgemeinen hinstellt. Wollen Sie mir nicht auch ein Glas Cognac anbieten? Und gießen Sie nicht zu sparsam ein.“ Wie beabsichtigt, hatte sie ihn schockiert.
Doch er fasste sich rasch und brachte ihr ein Glas, gefüllt mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Dann nahm er wieder am Schreibtisch Platz. „Sie sprachen eben davon, dass wir noch etwas zu erledigen hätten? Dann wollen wir uns beeilen, diese mysteriöse Angelegenheit zu regeln. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, und Sie haben gewiss noch etwas vor. Vermutlich müssen Sie noch bei Squire Bradley vorbei, um etwas Silber zu stehlen.“
Sie ging nicht darauf ein, sondern fragte: „Warum haben Sie niemandem gegenüber erwähnt, dass Sie in der letzten Nacht Besuch von The Cat hatten?“
Brandon lächelte maliziös. „Die Antwort ist einfach: Ich habe geschwiegen, weil Sie unbedingt wollten, dass ich darüber rede. Für mich gab es keinen Grund, den Wunsch einer Verbrecherin zu erfüllen, der es an Moral fehlt.“
Nora setzte beide Füße fest auf den Boden und erklärte ärgerlich: „Mir fehlt es keineswegs an Moral!“
„Sie eignen sich Dinge an, die Ihnen nicht gehören!“
„Nur, um Menschen zu helfen, die nichts besitzen.“
„Sie erwarten doch nicht, dass ich glaube, Sie würden nichts für sich selbst behalten!“
„Wenn es mir darum ginge, mir ein schönes Leben zu machen, würde ich mehr stehlen als ab und zu einen silbernen Kerzenständer oder etwas Haushaltsgeld. Sie könnten übrigens bei Miss Habersham Informationen über das Waisenhaus in Manchester einholen, das ich unterstütze. Vermutlich kennt die Dame auch den Namen einiger Familien, die, um zu überleben, auf meine Hilfe angewiesen sind.“
„Was hat die alte Jungfer mit Ihnen zu tun?“
„Nichts. Sie und ihre Freundinnen gehören allerdings zu einer Gruppe, die beschlossen haben, mildtätige Werke zu tun. Was bedeutet, dass sie einmal im Monat – ich glaube, es ist jeweils am dritten Mittwoch – nach Manchester fahren, um in bestimmten Stadtvierteln Lebensmittel an die Armen zu verteilen. Eben diese Bedürftigen werden Ihnen gern bestätigen, wie dringend sie auf das angewiesen sind, was sie von The Cat bekommen.“
Brandon runzelte die Stirn. „Mir scheint, dass jene Damen einen Weg gefunden haben, Gutes zu tun, ohne zuvor Verbrechen zu begehen.“
„Wenn man den Hungertod fürchten muss, hilft es nicht wirklich, einmal im Monat etwas zu essen zu erhalten. Diese sogenannten mildtätigen Werke dienen lediglich dazu, das Gewissen der Reichen zu beruhigen.“ Nora warf Stockport einen flammenden Blick zu und erhob sich, um an den Schreibtisch zu treten. „Ich habe mich gefragt, woran Sie so spät in der Nacht noch arbeiten.“ Unvermutet streckte sie die Hand nach dem unvollendeten Brief aus, der dort lag. Sie hielt ihn in den Fingern, ehe Brandon sie daran hindern konnte.
„Ah, Sie korrespondieren mit einem Freund über Ihre politische Arbeit? Wie ich sehe, geht es um den Reform Act. Sie setzen sich doch nicht etwa für eine Änderung des Wahlrechts ein? Das würde letztendlich dazu führen, dass Ihre Klasse an Einfluss verliert. Natürlich würde das House of Lords dem sowieso nicht zustimmen.“
„Sie beschäftigen sich mit Politik?“ Brandon war ehrlich erstaunt. Seiner Meinung nach hatte, abgesehen von den Mitgliedern des Ober- und Unterhauses, bisher kaum jemand der geplanten Gesetzesänderung größere Aufmerksamkeit geschenkt.
„Haben Sie schon vergessen, dass ich mich für soziale Gerechtigkeit einsetze? Dazu gehört, dass die Reichen für die Armen sorgen. Dazu gehört aber auch, dass nicht nur einige
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