Die schöne Diebin
Maschinen investierte, würden viele Frauen weiterhin daheim an ihren Webstühlen sitzen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können. Es würde weniger Kinderarbeit geben, weniger Unfälle und weniger Hunger als in den Hochburgen der Industrialisierung.
Die um den Teetisch versammelten Damen hatten an anderes gedacht. Sie hatten Alice Bradley bedauert und sich dabei Hatties leckere Kekse schmecken lassen.
Dann war der Earl erschienen – einfach hinreißend attraktiv in seiner eleganten Kleidung.
In der vergangenen Nacht hatte Nora gespürt, wie kraftvoll und männlich sein Körper war. Aber sie hatte nicht einmal geahnt, wie perfekt er gebaut war. Auch seine angenehmen Gesichtszüge hatte sie im Dunkeln nicht gesehen. Im hellen Licht des Tages jedoch war es ihr schwergefallen, den Blick von seiner geraden Nase, den klugen eisblauen Augen und dem Kinn abzuwenden, das Willensstärke ausdrückte. Ihren Gästen war es offensichtlich nicht anders ergangen, sie hatten alle den attraktiven schwarzhaarigen Besucher bewundert und ihm gebannt zugehört.
Zunächst hatte Nora noch gehofft, er würde erwähnen, dass auch er Besuch von der Katze erhalten hatte. Das hätte sie ihrem Ziel ein wenig näher gebracht. Doch Stockport hatte mit kleinem Wort erwähnt, dass bei ihm eingebrochen worden war. Schlimmer noch, er hatte nicht widersprochen, als Alice Bradley meinte, er sei als einziger wohlhabender Bewohner von Stockport-on-the-Medlock noch nicht bestohlen worden.
Wie ärgerlich! fand Nora. Schließlich war sie in Stockport Hall eingedrungen, um zu beweisen, dass niemand vor The Cat sicher sein konnte. Ganz gleich, wie gut die Bewachung, ganz gleich, wie hoch das Ansehen des Betroffenen war – die Katze ließ sich nicht aufhalten.
Verflixt, jeder andere hätte über den dreisten Einbrecher geschimpft! Nicht aber der Earl … Er ist eben nicht wie die anderen!
Tief in Gedanken versunken, begann Nora, ihr Haar zu bürsten. In der vergangenen Nacht hatte sie geglaubt, es sei eine gute Idee, Stockport zu küssen. Mit ihrem schockierenden Verhalten hatte sie den arroganten Gentleman aus dem Gleichgewicht bringen wollen. Das war ihr gelungen. Doch leider hatte auch ihr eigenes inneres Gleichgewicht unter diesem Kuss gelitten.
Außerdem hatte sie den Earl dadurch in eine Situation gebracht, über die er verständlicherweise am liebsten Stillschweigen bewahren würde. Es war absurd, anzunehmen, er würde erzählen, wie er die Katze in seinem Schlafzimmer vorgefunden hatte und sich, statt sie gefangen zu nehmen, von ihr hatte küssen lassen. Er war ein Mann, der gern das Ruder in der Hand hielt. Er war selbstbewusst und befehlsgewohnt. Er war charmant und – das legte zumindest sein Benehmen gegenüber den zum Tee versammelten Damen nahe – daran gewöhnt, dass die Frauen ihm zu Füßen lagen. Natürlich würde er nicht zugeben, dass er von einer Frau, einer Diebin noch dazu, überrumpelt worden war.
Der Kuss war ein Fehler gewesen. Nora bedauerte jetzt, nicht doch den Ring genommen zu haben. Aber noch war es nicht zu spät. Das Schmuckstück schien eine besondere Bedeutung für Lord Stockport zu haben. Das galt es auszunutzen. Ein Plan reifte in ihrem Kopf: Sie würde sich den Ring holen und dem Earl anbieten, ihn für eine entsprechende Summe zurückzukaufen.
Ja, gleich in dieser Nacht würde sie ans Werk gehen!
Stockport Hall lag im Dunkeln, als Nora sich dem Haus gegen Mitternacht näherte. Hinter einem einzigen Fenster brannte noch Licht. Das musste – so hatte jedenfalls Alfred gesagt – die Bibliothek sein. Er hatte auch berichtet, dass der Earl, der allein lebte, die Abende oft dort verbrachte, bei einem Glas Portwein und in ein Buch vertieft.
Nora erreichte die Eiche und kletterte mühelos hinauf. Schon befand sie sich auf gleicher Höhe mit dem Schlafzimmerfenster. Ein Stück über ihr befand sich ein kräftiger Ast. Den wollte sie erreichen. Sie schlang ein dunkles Seil um den Stamm, legte sich dann bäuchlings auf den Ast und lauschte in die Nacht. Noch war nichts zu hören von den Wachleuten, die auf Stockports Grundstück patrouillierten. Gut, sie konnte also ans Werk gehen.
Durch das Seil gesichert, erreichte sie wenig später die schmale Fensterbank, und während sie sich mit einer Hand an den Ast klammerte, stieß sie mit der anderen das Fenster auf. Dem Himmel sei Dank, der Earl hatte den Griff, mit dem man das Fenster fest schließen konnte, noch nicht reparieren lassen! Zweifellos war er gar
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