Die schöne Diebin
unerträglich. Nora, die Frau, die im Begriff war, sich in Brandon zu verlieben, hätte am liebsten die Augen vor allem verschlossen, was ein schlechtes Licht auf den Mann werfen konnte, der so heftige Gefühle in ihr geweckt hatte. Nora, The Cat, hingegen kannte ihre Pflicht. Sie musste sich der Wirklichkeit stellen, ganz gleich, was sie dabei über Stockport erfuhr. Und sie musste dafür sorgen, dass die Fabrik nicht gebaut wurde.
Sie wusste, dass sie ihr Ziel schon fast erreicht hatte. Im Ort ging das Gerücht um, dass zwei der Investoren sich zurückziehen wollten. Dann würde das Geld zum Weiterbau fehlen.
Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass man sich nicht zu früh freuen durfte. Oft geschah gerade dann, wenn man sich des Sieges sicher war, irgendein Unglück. Aber lass es nicht heute Nacht sein! Ich darf jetzt nicht scheitern. Es gibt so viel zu tun.
Das Wichtigste war, Mary Malone zu helfen. Am Montag hatte Nora ein Briefchen bekommen, aus dem hervorging, dass Mollys Zustand sich verschlechtert hatte. Da die Malones während der letzten Tage dank Stockports Großzügigkeit ausreichend mit Lebensmitteln und Heizmaterial versorgt worden waren, konnten nicht nur Hunger und Kälte für Marys Krankheit verantwortlich sein. Sie brauchte einen Arzt. Das war teuer. Und die Medikamente, die er ihr verordnen würde, mussten ebenfalls bezahlt werden.
Nora hatte den Gipfel des Cheetham Hills fast erreicht und bog nun in eine Seitenstraße ein, die zur Rückseite der Häuser und zu den Wiesen und Stallungen führte, wo die Reichen ihre Pferde unterstellten. Nicht weit vom Hintereingang zu St. Johns parkartigem Garten fand sie einen Baum, an dem sie ihr eigenes Pferd festbinden konnte.
Da sie schon zweimal hier gewesen war, kannte sie sich recht gut aus. Das Speisezimmer, in dem der wertvolle aus Italien importierte Kristalllüster hing, war der größte Stolz des Hausbesitzers. Von diesem Raum aus konnten Bewohner und Gäste durch große Glastüren in den Park hinaustreten und sich während der warmen Jahreszeit am Spiel des Springbrunnens freuen. Jetzt im Winter war das Wasser natürlich abgestellt, und die Türen blieben geschlossen.
Aber sie ließen sich öffnen. Es würde einfach sein, ins Haus einzudringen. Und relativ ungefährlich, sofern die zweite Köchin den anderen Dienstboten – so wie sie es versprochen hatte – ein Schlafmittel mit ihrer letzten Mahlzeit vor dem Dinner verabreicht hatte. Wenn alles nach Plan ging, dann schlief St. Johns Personal jetzt bereits tief und fest.
Nur diejenigen, die im Speisezimmer und in der Küche gebraucht wurden, um den Hausherrn und seine Gäste zu bedienen, hatten die Droge nicht erhalten sollen. Sie wurden schließlich gebraucht, wenn St. John tatsächlich, statt bei Squire Bradley Karten zu spielen, selbst eingeladen hatte. Diese Diener bereiteten Nora allerdings keine Sorge. Viele empfanden Sympathie für The Cat, wohingegen St. John bei seinen Untergebenen wegen seiner herablassenden und rücksichtslosen Art keineswegs beliebt war.
Unterdessen war Nora auf die Mauer geklettert, die St. Johns Grundstück umgab, und hatte sich von dort aus umgeschaut. Nichts war zu sehen oder zu hören. Also sprang sie in den Garten und machte sich als Erstes auf den Weg zum Tor. Sie schob den Riegel zur Seite, damit nichts sie aufhielt, wenn sie fliehen musste. So konnte sie ihr Pferd schnell erreichen und entkommen, ehe St. John und seine Gäste – sofern Stockports Information überhaupt zutraf – die Falle zuschnappen lassen konnten.
Nora schlich jetzt in Richtung des Hauses. Hinter einem Baum versteckt, betrachtete sie die großen Glastüren des Speisezimmers. Die Vorhänge waren zugezogen, und alles schien ruhig zu sein. Die Kerzen in dem großen Kristalllüster jedenfalls waren nicht angezündet worden. Deren Licht wäre deutlich zu sehen gewesen.
Bedeutete das, dass der Earl gelogen hatte? War St. John doch mit seiner Gattin zu Squire Bradley gefahren?
Die Enttäuschung tat geradezu körperlich weh. Doch rasch rief Nora sich zur Ordnung. Wenn man ihr wirklich eine Falle stellen wollte, wäre es dumm gewesen, den Raum hell zu erleuchten.
Sie zog ihre kleine Uhr hervor. Kurz vor neun. Das Dinner mochte gegen sieben begonnen haben. Inzwischen würden die Gäste beim dritten oder vierten Gang angekommen sein und schon reichlich getrunken haben. Es war allgemein bekannt, dass St. John ein großzügiger Gastgeber mit einem hervorragenden Weinkeller war.
In Gedanken ging
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