Die schöne Diebin
Nora noch einmal alles durch, was sie über den Hausherrn wusste. Wenn er alle Investoren und ihre Gattinnen eingeladen hatte, würden zehn Leute am Tisch sitzen. Und jeder würde von einem eigens für ihn abgestellten Kellner bedient werden. Vielleicht war auch Stockport gekommen. Insgesamt würden sich dann also zwanzig oder gar zweiundzwanzig Personen im Speisezimmer aufhalten.
Ein angenehmer Schauer überlief sie, als sie an den Earl dachte. Seit der Nacht, da er sie in ihrem Haus aufgesucht hatte, war sie ihm nicht mehr begegnet. Aber nur selten hatte sie ihn aus ihren Gedanken verdrängen können. Jetzt, das wusste sie, durfte sie sich von ihm – ob er nun da war oder nicht – keineswegs ablenken lassen. Sie musste eine Vorstellung geben, eine erfolgreiche Vorstellung. Ihre eigene Zukunft, die der Fabrik und die vieler Menschen hing davon ab, dass sie keinen Fehler machte.
Schnell legte sie die restliche Strecke zum Haus zurück. Neben einer der Türen stehend, versuchte sie, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Ah, da war tatsächlich ein schwacher Lichtschimmer zu erkennen. Vermutlich speiste die Gesellschaft im Schein einiger auf dem Tisch platzierter Kerzen. Brandon hatte also nicht gelogen.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Dolch und die beiden Pistolen, die sie sich in den Gürtel gesteckt hatte, genau dort waren, wo sie hingehörten, atmete Nora einige Male tief durch. An diesem Abend trug sie zu ihrer Sicherheit im Ärmel versteckt ein weiteres kleines Messer bei sich. Trotzdem fühlte sie sich plötzlich erschreckend verletzlich. Einen Moment lang war sie versucht, einfach umzukehren.
Doch dann rief sie sich die verzweifelte Situation von Mary Malone und den Kindern in Erinnerung und tat, was sie sich vorgenommen hatte.
Glas splitterte, und eine Frau kreischte. Mehrere von St. Johns männlichen Gästen begannen, beruhigend auf die Damen einzureden. Dann stand plötzlich eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt, die eine Maske trug, mitten auf dem mit einem weißen Tuch gedeckten Tisch. In jeder Hand hielt sie eine gefährlich aussehende Pistole.
St. John sprang auf und wollte sich auf den Eindringling stürzen. Doch dieser richtete die Waffe auf ihn und sagte mit heiserer Stimme: „Keine Bewegung oder ich schieße!“
Jemand stöhnte auf, doch ansonsten war es plötzlich totenstill im Raum. Brandon, der als Ehrengast rechts neben dem Hausherrn saß, spürte, wie die Anspannung, die ihn den ganzen Abend erfüllt hatte, nachließ und einer – wie er fand – verrückten Neugier auf das Kommende Platz machte. The Cat war erschienen, aber sie war nicht in die Falle getappt. St. John und seine Komplizen hatten geglaubt, den Einbrecher mit Hilfe der Dienstboten leicht überwältigen zu können. Niemand hatte angenommen, dass sie den Mut haben würde, gegen so viele zu allem entschlossene Männer zu kämpfen. Aber wieder einmal hatte die Katze das Unerwartete getan.
Der Gedanke an St. Johns Personal beunruhigte Stockport. Wie würde The Cat reagieren, wenn plötzlich mehrere bewaffnete Männer in den Speiseraum stürzten? So viele Menschen würde sie kaum in Schach halten können. Aber vielleicht hatte sie vorgesorgt? Es war offensichtlich, dass keiner der Kellner etwas zu unternehmen gedachte. Und von den anderen Dienstboten war nichts zu hören und zu sehen.
Brandon senkte den Blick, damit niemand bemerkte, wie froh er über die Entwicklung der Dinge war. Die Katze schien alles perfekt vorbereitet zu haben. In Siegerpose stand sie auf dem Tisch. Sie brauchte niemanden, der sie beschützte.
Sein Gewissen regte sich. Wenn sie doch Hilfe gebraucht hätte, hätte er sie ihr nicht geben können. Im Gegenteil, als Friedensrichter war es seine Pflicht, jeden Verbrecher der Gerichtsbarkeit zu übergeben.
Es ist falsch, die Katze vor den Folgen ihres Tuns zu bewahren. Oder nicht? Verflixt, ich hätte die Einladung zu diesem Dinner gar nicht annehmen dürfen! Aber meine Neugier war zu groß. Ich wollte unbe dingt wissen, ob Nora meine Warnung ernst nimmt. Ich hätte es nicht ertragen, stundenlang darüber im Unklaren zu bleiben, ob sie sich in Sicherheit befindet oder nicht. Ich wollte unbedingt wissen, ob sie ihren Plan aufgegeben hat, weil sie mir vertraut.
Er hob den Kopf ein wenig und musterte The Cat möglichst unauffällig. Nun, anscheinend ist sie von ähnlichen Zweifeln ge plagt worden wie ich. Und nun, da sie hier erschienen ist, schulde ich Jack einhundert Pfund. Es war wirklich
Weitere Kostenlose Bücher