Die schöne Diebin
der Sandwiches, die appetitlich angerichtet auf einem Teller lagen. Er biss davon ab. Kaute. Schluckte.
Sein scheinbar völlig entspanntes Verhalten steigerte Noras Nervosität.
„Möchtest du nichts essen?“, fragte Brandon. „Diese Gurkensandwiches sind wirklich lecker.“
Sie nahm sich eines und probierte. Für sie schmeckte es wie Pappe.
„Es wäre nett, wenn du mir etwas mehr über deinen angeblichen Ehemann erzählen würdest.“
„Oh, er ist keineswegs ein Produkt meiner Fantasie. Es gibt ihn wirklich.“ Sie zwang sich, noch einmal von ihrem Schnittchen abzubeißen. „Hervorragend“, erklärte sie.
„Das freut mich. Trotzdem möchte ich jetzt nicht übers Essen, sondern über Ehemänner sprechen. Nora, ich werde keine Ruhe geben, ehe du mir nicht alles berichtet hast.“
Sie schwieg.
„Willst du ein Gesellschaftsspiel daraus machen? Ich fürchte, ich habe im Moment keine besondere Vorliebe für diese Art von Frage-und-Antwort-Spiel.“
Nora legte ihr Sandwich auf den Teller und schaute Brandon nachdenklich an. Seine Erziehung und sein Wesen würden es vermutlich nicht zulassen, dass er sie um Antworten bat. Er war es gewohnt zu befehlen, nicht zu bitten. Daher war sein Verhalten durchaus als rücksichtsvoll anzusehen. Denn es war offensichtlich, dass er unter ihrer Verschlossenheit litt. „Du hast recht“, sagte sie, „dies ist nicht der richtige Moment für Spiele. Also: Als ich siebzehn war, lernte ich Reggie Portman kennen und verliebte mich Hals über Kopf in ihn. Er sah gut aus und konnte sehr charmant sein. In meiner Unerfahrenheit nahm ich an, er würde mir die Welt zu Füßen legen.“ Sie zuckte die Schultern. „Damals habe ich wohl noch an Märchen geglaubt.“
Reggie hatte sie mit Schmeicheleien umworben und sie so hingebungsvoll geküsst, dass sie nicht an der Tiefe seiner Empfindungen zweifelte. Seit sie ihr Elternhaus hatte verlassen müssen, war ihr niemand begegnet, der ihr wirklich Beachtung geschenkt hatte. Es tat gut, bewundert zu werden. Wie hätte eine Siebzehnjährige auch erkennen können, dass es ihrem Verehrer bei all seiner an den Tag gelegten Leidenschaft hauptsächlich um die eigene Befriedigung ging?
Tatsächlich hatte Nora lange gebraucht, um zu begreifen, dass viele Männer sich nicht scheuten, das Bett mit Frauen zu teilen, die ihnen ansonsten völlig gleichgültig waren. Sex, so hatte sie anfangs geglaubt, sei immer ein Ausdruck liebevoller Gefühle. Seitdem hatte sie dazugelernt …
„Wir heirateten, aber das erste Glück verflog rasch. Es folgte eine … schwierige Zeit. Ich glaube, die Ehe ist einfach nichts für mich. Im Übrigen könnte ich nie zur Bigamistin werden.“
Nachdenklich hatte Brandon zugehört. „Was hat denn aus einer romantischen jungen Frau eine solche Zynikerin gemacht?“
Nora trank einen Schluck, ehe sie antwortete: „Ich bin oft einsam gewesen, und niemand hat mir beigestanden außer Hattie und Alfred.“
„Sind die beiden mit dir verwandt?“
„Nein.“ Traurig schüttelte sie den Kopf. „Ich habe keine Verwandten.“
Brandon ergriff ihre Hand. „Was ist mit deinen Eltern geschehen? Wie kommt es, dass du allein in der Welt stehst?“ Er bemerkte ihr Zögern und fuhr rasch fort: „Du kannst offen mit mir sprechen, Nora. Bitte! Ich möchte alles über dich erfahren.“
Es war überraschend einfach, ihm Dinge zu erzählen, über die sie bisher mit niemandem geredet hatte. „Wir lebten in Manchester“, begann sie. „Mein Vater besaß eine kleine Fabrik. Meine Mutter war eine liebevolle, allerdings sehr zurückhaltende Frau. Als einziges Kind wurde ich von beiden verwöhnt. Mir fehlte es an nichts, und ich erhielt eine gute Erziehung. Eines Tages kam es in der Fabrik zu einer Explosion. Mein Vater wollte einigen verletzten Arbeitern helfen und starb selbst bei diesem Rettungsversuch.“
Die Erinnerung trieb ihr Tränen in die Augen. Doch rasch hatte sie die Fassung zurückgewonnen. „Später stellte sich heraus, dass bei der Konstruktion einer Maschine ein Fehler gemacht worden war. Mein Vater hatte es nicht bemerkt.
Schließlich war er ein Geschäftsmann und kein Techniker … Für Mama und mich hatte er vorgesorgt. Nach seinem Tod litten wir keine finanzielle Not. Doch den verletzten Arbeitern und den Hinterbliebenen der Toten erging es ganz anders. Niemand – außer meiner Mutter und mir – fühlte sich für sie verantwortlich. Viele von ihnen hatten alles verloren. Wir versuchten zu helfen. Aber alles, was
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